Wenige Tag nach der Wahl sind sich die Meinungsforschungsinstitute in ihren Analysen einig darüber, wer wen warum gewählt hat. Wieso aber das Wahlergebnis vom 18. September für die Demoskopen ebenso überraschend kam wie für alle anderen, löst Rätselraten aus. Wie ein Blitz hat insbesondere das CDU-Ergebnis von nur wenig mehr als 35 Prozent eingeschlagen. Noch am 16. September hatte das Institut für Demoskopie Allensbach 41,5 Prozent für die Union und acht Prozent für die FDP ermittelt und auch Forsa sah die Union zwei Tage vor der Wahl noch bei 41 bis 43 Prozent.
Wie das passieren konnte, darüber sind sich die Demoskopen uneins. Bei der Forschungsgruppe Wahlen führt man die ungenauen Vorhersagen darauf zurück, dass "Umfragen nur die Stimmung zu einem bestimmten Zeitpunkt wiedergeben". Zudem habe die Bindung der Wähler an eine Partei stark abgenommen, was zu einem großen Anteil an unentschlossenen Wählern und Nichtwählern geführt habe. Da es "auf den letzten Metern" große Veränderungen innerhalb der beiden Lager gegeben habe, sei eine Form der Koalitionstaktik aufgetreten. Insbesondere die FDP habe so Stimmen von CDU-Wählern abgreifen können, die gegen eine große Koalition gewesen seien.
Bei infratest-dimap sprach man von der "zittrigen Hand" der Wähler. Die Wechselbereitschaft der Wähler sei klar gewesen, nicht aber deren Anteil an der Gesamtwählerschaft. 29 Prozent der Wähler hätten in diesem Jahr ihre Entscheidung erst in der Woche vor der Wahl oder am Wahltag getroffen. Die Meinungsforschungsinstitute müssten aus dieser Erfahrung heraus künftig "Entscheidungsprozesse besser abbilden".
Bei Allensbach machte man einen weiteren Faktor für die Abweichungen der Prognosen vom Ergebnis verantwortlich: Es sei ein Novum dieser Wahl, dass Befragte bewusst Falschaussagen über ihre Wahlabsichten gemacht hätten. Hintergrund dessen könnte sein, dass einige Wähler ihre Stimme nicht Angela Merkel geben wollten, es ihnen aber nicht opportun erschienen sei, dies offen zu sagen.
Das Ergebnis der Bundestagswahl ist überraschend - und für keines der beiden Lager, die gegeneinander angetreten waren, befriedigend. Weder Rot-Grün noch Schwarz-Gelb haben ihr Ziel einer eigenständigen Mehrheit erreicht. Zum ersten Mal seit 1953 konnten SPD und CDU/CSU weniger als 70 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen - dies beschleunigt den seit 1980 erkennbaren Trend, nach dem sich immer weniger Wähler für eine der großen Parteien erwärmen können. Manfred Güllner, Chef des Berliner Forsa-Instituts sprach in diesem Zusammenhang gegenüber einer Nachrichtenagentur von einem "Bedeutungsverlust der Großparteien". Nur bei der ersten Bundestagswahl 1949, als sich das demokratische Parteiensystem in Deutschland nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes noch nicht etabliert habe, sei "die Vertrauensbasis der beiden großen Parteien geringer" gewesen.
Die Wahlbevölkerung, so das Fazit des infas-Instituts für angewandte Sozialwissenschaft am Tag nach der Wahl, ist "in zwei Lager gespalten" - und die wesentlichen Wählerwanderungen haben innerhalb dieser Lager - Union und FDP einerseits, SPD, Grüne und Linkspartei andererseits - stattgefunden. Dabei hat die SPD massiv an den linken Rand verloren: Fast eine Million Stimmen mussten die Sozialdemokraten an die Linkspartei abgeben. Die Lafontainsche Linke, so infas, sei zur Bastion ehemaliger SPD-Wähler geworden, die "von Veränderungen des Sozialstaats gar nichts wissen" wollten. Neben diesen Wechselwählern haben der SPD auch die Nichtwähler zugesetzt: 370.000 Stimmen hat die Partei an sie verloren. Größere Probleme bei der Mobilisierung der Wähler hatte jedoch die CDU. Sie verlor 640.000 Stimmen ehemaliger Unionswähler, die es in diesem Jahr vorzogen, der Wahlurne fernzubleiben. Noch gravierender allerdings wirkte sich für die Union der Wechsel vieler ihrer ehemaligen Wähler zur FDP aus. Ganze 1.110.000 Stimmen büßte sie damit ein.
Damit gibt es zwei klare Wahlgewinner: FDP und Linkspartei. Dass sich in diesem Jahr so viele Wähler den Liberalen zugewandt haben, die 2002 noch CDU gewählt hatten, lag maßgeblich an strategischen Erwägungen: Eine große Gruppe taktischer Wähler unterstützte die FDP gezielt, um eine große Koalition zu verhindern. Die Linkspartei profitierte hingegen davon, dass es ihr gelungen ist, sowohl Wechsel- als auch Nichtwähler - vor allem im Osten des Landes - zu mobilisieren. Damit konnte die Koalition aus PDS und WASG das Ergebnis der PDS von 2002 verdoppeln. Allein das Ergebnis der Grünen hat sich im Vergleich zur vorigen Bundestagswahl kaum verändert.
Verloren haben die beiden Volksparteien vor allem im Osten. Die SPD büßte hier im Vergleich zu 2002 9,4 Prozent ein - blieb aber aller trotz aller Befürchtungen mit 30,5 Prozent stärkste Kraft, während die CDU mit 25,3 Prozent hinter der Linkspartei lag. Diese gewann in den neuen Bundesländern 25,4 Prozent der Stimmen. In den alten Ländern holte die Linkspartei 4,9 Prozent. In Hamburg, Bremen, Nordrhein-Westfalen, Hessen und Rheinland-Pfalz kam sie auf deutlich über fünf Prozent - für die Wahlforscher ein Zeichen dafür, dass die Partei dauerhaft zur Konkurrenz für die etablierten Parteien werden könnte und nicht länger als ostdeutsche Regionalpartei angesehen werden sollte.
In Nord- und Ostdeutschland blieb die SPD stärkste Kraft. Sie liegt in 12 von 16 Bundesländern vorn - obwohl sie zuvor 11 Landtagswahlen in Folge verloren hatte. In Sachsen allerdings erlitten die Sozialdemokraten ein Desaster: Hier verlor die SPD neun Prozent der Zweitstimmen. Dennoch wiederholt sich ein Trend, der bereits 2002 zu beobachten war und auf der politischen Landkarte deutlich sichtbar ist: Geht es um die Macht in Berlin, wählt der Norden mehrheitlich rot. Zudem wurde erneut klar, dass sich von den Erfolgen bei Landtagswahlen nicht auf Bundestagswahlen schließen lässt. Bundesweit hatte sich die Union in den Monaten vor der Wahl im Stimmungshoch befunden, dennoch verlor sie nun auch dort, wo sie momentan die Landesregierung stellt. Besonders deutlich wurde das in Nordrhein-Westfalen. Obwohl die CDU hier erst im Mai dieses Jahres die rot-grüne Landesregierung abelöst hatte, stürzte sie am 18. September um mehr als zehn Prozentpunkte ab. In Bayern brach die CSU ein und erlitt mit 49,3 Prozent eine historische Niederlage. Auch im Saarland, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Baden-Württemberg und Hessen verlor die Union mehr als im Bundesdurchschnitt.
Woran hat es gelegen, dass insbesondere die großen Volksparteien ihre Wähler nicht mehr überzeugen konnten? Nach einer telefonischen Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen basiert die Niederlage der SPD vor allem auf der hohen Unzufriedenheit mit der Bundesregierung und einem zunehmenden Vertrauensverlust in die Kompetenzen der Sozialdemokraten. Nur noch 21 Prozent der Befragten trauten der SPD zu, das wichtigste Problem, die Arbeitslosigkeit, bekämpfen zu können - während 41 Prozent in diesem Punkt an die Union glaubten. In den Bereichen der Steuer-, Renten-, Gesundheits- und Familienpoltik lag die SPD nahezu gleichauf mit der Union, aber deutlich weniger Wähler vertrauten den Sozialdemokraten
in Wirtschafts- und Zukunftsfragen. Entsprechend schlechte Noten gaben die Wähler der Arbeit des Kabinetts von Bundeskanzler Gerhard Schröder: Auf einer Skala von -5 bis +5 lag Rot-Grün vor der Wahl bei -0,4. 2002 war es noch ein Wert von 0,5.
Von diesen schlechten Werten konnte die Union jedoch nicht profitieren. Nur eine knappe Mehrheit von 51 Prozent der Befragten sprach sich kurz vor der Wahl für einen Regierungswechsel aus. Geschadet hat der Union vor allem die Debatte um eine große Koalition: Nur 36 Prozent der Unionsanhänger votierten eine Woche vor der Wahl für eine Koalition mit der SPD - deutliche 53 Prozent waren dagegen.
Zwei Personen sind es nach Ansicht der Meinungsforscher, die die Union Stimmen kosteten: Angela Merkel und Paul Kirchhof. Forsa-Chef Manfred Güllner sagte bei einer Wahlanalyse, die Anhänger der Union seien "wegen Vorbehalten gegen Merkel nicht wählen gegangen". Dies schlug sich in den Zahlen zur Kanzlerpräferenz nieder: Nur 78 Prozent der CDU- und 62 Prozent der CSU-Anhänger sprachen sich für Merkel als Kanzlerin aus. Für Edmund Stoiber hatten dagegen 2002 79 Prozent der CDU- und 90 Prozent der CSU-Wähler votiert. Insbesondere in Bayern hätten die Vorbehalte gegen Merkel die Union Stimmen gekostet: 800.000 Stimmen habe die CSU hier deshalb nicht mobilisieren können, so Güllner.
Merkel sei nicht gegen die "personale Dominanz" angekommen, bilanzierte Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen. Schröder habe insbesondere in der Endphase des Wahlkampfs mit den Themen soziale Gerechtigkeit und im TV-Duell gepunktet. Insgesamt sei er als Kanzler deutlich populärer gewesen als seine Herausforderin. Auch für den Fall einer großen Koalition hatte sich die Mehrheit der Wähler Schröder als Kanzler gewünscht, so die Forsa-Analyse. Insgesamt hatte der Kanzler deutlich höhere Werte in den Punkten Sympathie, Durchsetzungsfähigkeit und Kompetenz bei der Regierungsführung. 71 Prozent hielten ihn für einen Siegertyp, während nur neun Prozent Angela Merkel so charakterisierten. Ihr attestierten jedoch deutlich mehr Wähler, die bessere Regierungsmannschaft zu haben. 31 Prozent der Befragten glaubten, die Union hätte mit einem anderen Kandidaten ein besseres Ergebnis eingefahren, für 51 Prozent hätte dies keinen Unterschied gemacht. Merkels Haupthandicap, so Forsa-Chef Güllner, sei es gewesen, dass sie "im wiedervereinigten Deutschland keine für die Wähler zureichende Identität gewonnen" habe; sie sei weder als "Ossi" noch als "Wessi" akzeptiert worden. Auch die Personalie Paul Kirchhof hat sich für die CDU/CSU negativ ausgewirkt. Nach einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen meinten 68 Prozent der Befragten, Kirchhof habe der Union geschadet. Analysen von infratest-dimap ergaben, die Steuerpolitik der Union mit Kirchhof habe große Unsicherheit erzeugt. Viele Wähler bezweifelten zudem, dass die für einen Wahlsieg angekündigte Mehrwertsteuererhöhung die Lohnnebenkosten wie behauptet wirksam senken würden.
Insgesamt hat die Union bei den älteren Wählern deutlich erfolgreicher abgeschnitten als bei den Jüngeren. Sie ist bei den über 60-Jährigen mit 43 Prozent stärkste Partei. In allen anderen Altersgruppen liegt dagegen die SPD vorn. Vor allem bei den Jungwählern konnten die Sozialdemokraten punkten: Nach einer Umfrage von infratest-dimap hat die SPD fast 40 Prozent der Erstwählerstimmen auf sich ziehen können. Dafür musste sie überdurchschnittlich große Verluste bei den Arbeitern (37 Prozent, minus sechs) und Arbeitslosen (34 Prozent, minus sieben) hinnehmen. Die Linkspartei hingegen konnte hier gewinnen: Sie wurde mit 25 Prozent der Stimmen bei den Arbeitslosen zweitstärkste Kraft vor der Union, die 20 Prozent erhielt. Während die Union überdurchschnittliche Verluste bei den Männern hinnehmen musste, verlor die SPD erheblich bei den Frauen.
Insgesamt hat die Bundestagswahl, so das Fazit der Forschungsgruppe Wahlen, äußerst schwierige Mehrheitsverhältnisse hervorgebracht. Auch wenn noch nicht klar sei, wer in Zukunft in Deutschland regieren werde, werde es "eine Koalition sein, die keine der Parteien vorher gewollt hat". Und auch die Wähler scheinen dieses Ergebnis nicht gewollt zu haben: Nach einer Blitzumfrage der Forschungsgruppe sind 70 Prozent der Deutschen unzufrieden mit dem Ausgang der Bundestagswahl 2005. Am größten ist die Unzufriedenheit unter den FDP-Anhängern: 88 Prozent sind hier enttäuscht, bei der Union sind es 81 Prozent. Doch auch die Anhänger von Linkspartei (69 Prozent), Grünen (68 Prozent) und SPD (61 Prozent) freuen sich nicht über den Wahlausgang. Zum Vergleich: 1998 waren 60 Prozent der Deutschen zufrieden mit dem Wahlausgang, 2002 noch 45 Prozent. Dennoch würden 87 Prozent der Wähler an ihrer Entscheidung festhalten - nur sechs Prozent der Befragten hätten in Kenntnis des Resultats anders gewählt. Allerdings würden 14 Prozent derer, die FDP gewählt haben, jetzt der CDU/CSU ihre Stimme geben.
Darüber, welche Parteien künftig miteinander regieren sollen, gehen die Meinungen auseinander: 33 Prozent der Befragten würden eine große Koalition befüworten, 26 Prozent ein Bündnis aus Union, FDP und Grünen. 19 Prozent favorisieren eine Ampel aus SPD, Grünen und FDP und neun Prozent sind für ein Bündnis aus SPD, Grünen und Linkspartei. Im Fall einer großen Koalition wären 50 Prozent der Befragten für Gerhard Schröder als Regierungschef, 43 Prozent sähen lieber Angela Merkel als Kanzlerin.