Mehr als 40 Jahre ist es her, dass Rafik Schami Zeuge eines so genannten Ehrenmordes wurde. Damals erschoss ein jüngerer Bruder seine 18 Jahre alte muslimische Schwester, weil sie sich mit einem Christen eingelassen hatte, zudem einem "Gigolo, der ihrer Liebe nicht wert war", wie Rafik Schami in einem Interview berichtet. Der Autor, der seit 1971 in Deutschland im Exil lebt und seit 25 Jahren in Deutsch schreibt, wurde in den letzten Jahren vor allem durch die Herausgabe von Kinderbüchern bekannt.
Das Thema der verbotenen Liebe ließ den gebürtigen Syrer nicht mehr los. Es hat viele gescheiterte Versuche und 30 Jahre gebraucht, bis Rafik Schami einen fast 900 Seiten langen Roman zu diesem großen Thema vorgelegt hat, der mit Recht meisterhaft genannt werden darf. Erzählt wird die Familiengeschichte zweier verfeindeter christlicher Clans, deren Hass über mehrere Generationen weitergetragen wird und der schließlich die Liebe zwischen Rana Schahin und Farid Muschtak durch Mord und durch Verfolgung zu zerstören droht. Darüber hinaus ist "Die dunkle Seite der Liebe" ein Krimi, der großes Lesevergnügen bereitet.
Rafik Schami wählte eine Erzählform, die weniger linear als mosaikhaft ist: 1.001 Geschichten über die Schicksale orientalischer Liebender, alle miteinander verwoben wie ein kunstvoller Teppich, münden in einer Liebesgeschichte, die an so berühmte Vorbilder wie Romeo und Julia oder Laila und Madschnun erinnert.
Die leicht anmutende Erzählkunst umgarnt den Leser und hilft ihm, den ornamental verlaufenden Erzähllinien willig zu folgen. Und das, obwohl man sicher häufiger die auf der Rückseite der Umschlagseiten abgedruckten Familienstammbäume konsultieren muss, um nicht den Überblick über die vielen Namen, Geschichten und persönlichen Beziehungen zu verlieren.
Die Kapitel über die Kinder- und Jugendjahre sind besonders lebendig und authentisch. Sie verströmen eine anrührende Zuneigung des Autors zu seiner Heimatstadt. Es ist eine vergangene Welt, die hier noch einmal mit großer Meisterschaft beschworen wird. Auch wenn sich der Autor der Tatsache bewusst ist, dass das heutige Damaskus nicht mehr das seiner Kindheit und Jugend sein kann, so sagt er doch, dass die Stadt für ihn Lachen sei, Gelassenheit und Geborgenheit.
Mit dem jungen Farid kann der Leser in diese Welt eintauchen: Er erlebt das pulsierende Treiben in den verwinkelten Gassen von Bab Tuma, dem alten christlichen Viertel in Damaskus, lernt die Straßen, Plätze und die hinreißend skizzierten Bewohner kennen und es wird wohl kaum jemanden geben, der nach der Lektüre nicht Lust hätte, die beschriebenen Orte einmal selbst zu besuchen.
Der Roman vermittelt - bei aller Fiktion - einen Überblick über ein Jahrhundert syrischer Geschichte und Sozialgeschichte. Die Namen der über die Jahrzehnte hinweg wechselnden Diktatoren sind zwar nicht die echten, dennoch liest sich das Buch auch als zeithistorisches Werk. Dabei thematisiert der Autor auch staatliche Willkür, Machtmissbrauch und die Gräuel der Foltermethoden syrischer Geheimpolizisten. Es sind düstere Passagen, die mit Sicherheit nicht nur für Syrien stehen. So sehr sich Schami nach seiner Heimat sehnt, so deutlich nimmt er - vor allem in Presseinterviews - Stellung zu den politischen Verhältnissen in der arabischen Welt. Ein Umstand, der nicht dazu beitragen dürfte, dass seine Bücher in absehbarer Zukunft auch in in seinem Heimatland verlegt werden; ebenso scheint ausgeschlossen, dass er dort je wieder einreisen darf.
Es sei schon "eine Wunde", so der Autor, dass seine Werke mittlerweile in 23 Sprachen erhältlich sind, nicht jedoch in Arabisch. Umso mehr freut ihn das Engagement des Kölner Exil-Verlages Al-Kamel, der das nun nachholen möchte. In diesen Wochen ist die erste Veröffentlichung geplant, und so besteht tatsächlich die berechtigte Hoffnung, dass Rafik Schamis Bücher über Umwege doch noch ihren Weg in seine heimatlichen Gassen finden werden.
Schami hat sich in den vergangenen Jahren eine stetig wachsende Fangemeinde mit seinen Vortragsreisen erarbeitet, oder besser gesagt "erzählt", und das nicht nur in Deutschland. Mit seinem Stil stellt er sich auch in die alte Tradition der "Hakawatis"; das sind die unzähligen orientalischen Poeten, Erzähler, Komödianten, die vor allem in früheren Zeiten ihr Publikum mit ihren dramaturgisch geschickt konzipierten Geschichten in den Kaffeehäuser regelmäßig zu fesseln wussten.
So findet sich auch hier Schönes und Schreckliches. Eine Prise damaszener Humor macht das Werk jedoch verdaulicher, und die Wechselfälle des Lebens präsentieren sich fast in heiterer Gelassenheit und augen-zwinkernder Ironie, ohne dass der Inhalt ins Belanglose abdriftet.
Rafik Schami hat die Grundprobleme der heutigen arabischen Gesellschaften literarisch auf anspruchsvolle Weise und zugleich sehr unterhaltsam verarbeitet. Nicht zuletzt das Thema der "Ehrenmorde", dem nun auch in Deutschland immer mehr Aufmerksamkeit zuteil wird, zeigt, welche thematische Relevanz und Aktualität das Buch darüber hinaus zu bieten hat.
Rafik Schami
Die dunkle Seite der Liebe. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2004; 896 S., 24,90 Euro