Das Parlament: Warum setzen radikale Palästinensergruppen seit 2000 zunehmend Selbstmordattentäter im Kampf gegen Israel ein?
Christoph Reuter: Die Palästinenser brauchten eine Weile, um diesen unglaublichen Schritt zu akzeptieren. Dadurch, dass die ersten Selbstmordattentäter als Helden gefeiert werden, dienten sie als Vorbild für Nachahmer. In der zweiten Intifada nach September 2000 sagten sich die Palästinenser, sie hätten alle anderen Widerstandsformen versucht, von Verhandlungen bis hin zum bewaffneten Kampf. Nichts hat funktioniert. Diese Tat sei das letzte Mittel in der verzweifelten Situation, um den Israelis zu zeigen: "Wir gewinnen diesen Krieg zwar nicht, aber ihr könnt ihn auch nicht gewinnen. Ihr werdet daher auch mitverlieren."
Das Parlament: Sprengen sich die Attentäter in die Luft, um den Jungfrauen im Paradies zu begegnen?
Christoph Reuter: Wenn das die Motivation wäre, dann würde man die Frage stellen müssen: Warum haben sie erst 1993 angefangen, sich zu sprengen? Das Paradies ist lediglich eine Form des Trostes vor der Tat, die dem Attentäter persönlich nichts bringt, weil er dabei stirbt. Er kann sich damit trösten, dass er nicht vergessen wird und dass seine Existenz in der Wahrnehmung der anderen fortgeführt wird - mit Bildern, Videos und Postern. Es ist nicht so schlicht, wie es häufig geschildert wird, dass alle nur darauf warten, mit 72 Jungfrauen Sex zu haben. Dadurch können sie auch einem theologischen Dilemma entgehen: Sie berufen sich auf den Islam, verstoßen aber gleichzeitig gegen ihn. Der Selbstmord ist im Islam ein Tabu. Wer dagegen verstößt, kommt in die Hölle. Diese Leute aber bringen sich selbst um. Die theologische Argumentation lautet daher, dass der Selbstmordattentäter seinem Leben kein Ende setzt, sondern woanders weiterlebt, nämlich im Paradies. Das zeigt, wie man ein politisches Instrument nachträglich religiös legitimiert.
Das Parlament: Inwieweit wollen die Selbstmordattentäter Rache für einen getöteten oder verletzten Verwandten oder Freund üben?
Christoph Reuter: Es geht nicht darum, ob jemand selbst einen Verwandten verloren hat. Die Attentäter sind diejenigen, die am wenigsten das Gefühl der Ohnmacht und der Erniedrigung ertragen. Die Erniedrigung kann persönlich sein oder die der Familie, aber auch die Ohnmacht des palästinensischen Volkes. Wenn man sich die Biografien von Attentätern anschaut, merkt man: Das sind oft Leute aus der Mitte der Gemeinschaft, die Nachbarschaftsprojekte gestartet und in den Moscheen Gruppen geleitet haben.
Das Parlament: Die israelische Wissenschaftlerin Anat Berko, die gescheiterte Selbstmordattentäter im Gefängnis traf, bezeichnet sie als Marionetten - kraftlos, Menschen am Rande der Gesellschaft mit einem niedrigen Selbstbewusstsein, die oft ohne Vater aufgewachsen sind und in dem Auftraggeber einen Ersatzvater finden. Stimmen Sie dem zu?
Christoph Reuter: Die Selbstmordattentäter sind nicht depressiv und wollen nicht ihrem Leben ein Ende machen, sondern suchen nach einem Ausweg, um gegen die auswegslose Situation anzurennen. Es existiert ein großer Unterschied zwischen denen, die das Attentat tatsächlich ausführen und jenen, die in letzter Minute scheitern. Die, die es getan haben, waren nicht depressiv. Viele, die in letzter Minute zurückschrecken, dagegen schon. Sie schaffen es nicht, diesen unglaublich aggressiven Akt zu begehen, sich und andere in die Luft zu sprengen.
Das Parlament: Spielen persönliche Erfahrungen eine Rolle?
Christoph Reuter: Es gibt Täter, die die Erniedrigung am eigenen Leib oder in der Familie erfahren haben und andere, die keine persönlichen Erfahrungen haben. Entscheidend ist: Es gibt Menschen, die Ohnmacht ertragen können und andere, die sie nicht ertragen können und sich daher in die Luft sprengen. Die Unterstützung für die Attentäter korreliert mit der Anzahl der Anschläge. Laut Umfragen schwankt sie zwischen zehn Prozent und 80 Prozent, je nachdem, welches Ausmaß an Hoffnung die Palästinenser haben.
Das Parlament: Können Sie das Profil des typischen Attentäters zeichnen?
Christoph Reuter: Das Profil des Selbstmordattentäters gibt es nicht. Zuerst waren es junge Männer, unverheiratet und religiös, für das national-religiöse Projekt begeistert. Aber in den letzten Jahren sind auch Säkulare dabei, ältere Menschen, Väter mehrerer Kinder, Söhne von Millionären.
Das Parlament: Wenn die Tat für ehrenvoll erklärt wird, warum schicken die Hamas-Führer ihre eigenen Kinder nicht als lebende Bomben fort?
Christoph Reuter: Man kann das niemandem befehlen. Das Unheimliche am Selbstmordattentat ist ja, dass man es nur freiwillig ausführen kann. Womit kann man schon jemandem drohen, wenn er das nicht tut? Mit dem Tod? Bei den (toten) palästinensischen Attentätern wurden nie Drogenrückstände gefunden. Diejenigen, die es letztendlich nicht getan haben, wurden oft unter Druck gesetzt.
Das Parlament: Werden die Attentäter zu zweit losgeschickt, damit sie in letzter Minute keinen Rückzieher machen? Ist die Abschiedsbotschaft des Täters auf Video auch ein Mittel, Druck zu erzeugen?
Christoph Reuter: Sie werden gemeinsam entsandt, damit die beiden sich gegenseitig bestärken. Aber schließlich - wie kann der eine, wenn er sich gesprengt hat, den anderen noch kontrollieren? Auch die Videos können den potenziellen Attentäter wohl kaum so weit unter Druck setzen, dass er sich umbringt aus Angst davor, der Lächerlichkeit preisgegeben zu werden, wenn er die Tat doch nicht ausführt. Auch würde die Organisation sich eher schaden, wenn sie einen von ihnen verrät. Ihr Interesse liegt eher daran, die Attentäter zu glorifizieren, um neue Freiwillige rekrutieren zu können.
Das Parlament: Kann der Trennungszaun in der Westbank Attentate verhindern?
Christoph Reuter: Wenn diese Mauer tatsächlich die komplette Westbank abriegeln würde, könnte sie Attentate verhindern, allerdings ist das nur wie ein stärkeres Ventil für einen Dampfkochtopf. Das Problem löst man dadurch nicht, denn man schafft eine Ausweglosigkeit und ein ökonomisches Elend, die mehr Palästinenser dazu bringen, eine solche Tat zu begehen. Statt dessen muss man den Palästinensern Hoffnung bringen und dadurch die Mentalität der Gesellschaft verändern.
Das Parlament: Wie bewerten Sie eine Beteiligung von Hamas an Wahlen?
Christoph Reuter: Es ist gut, wenn Hamas sich am politischen Prozess beteiligt, denn sobald sie dort etwas gewinnt, hat sie auch etwas zu verlieren. Durch Terroranschläge läuft sie Gefahr, die politischen Errungenschaften in den Wahlen wieder zu verlieren.
Das Parlament: Sind die Freudenbekundungen der Familien der Attentäter echt?
Christoph Reuter: Das ist Show. Ich war bei Familien zu Gast, die vor den Kameras gejubelt hatten. Es sind gebrochene Menschen. Ein Verwandter eines Attentäters hat mir erklärt, dass dies dennoch die einzig mögliche Reaktion sei: Wenn sie vor aller Welt erklären würden, ihr verlorener Sohn sei ein Trottel, weil er sich umgebracht habe, käme das einem Verrat gleich. Indem sie sagen, es war richtig, dass er das getan hat, versuchen sie, einen Rest an Würde zu bewahren und so dem Tod einen Sinn zu geben.
Das Interview führte Igal Avidan