Die anfängliche Euphorie ist mittlerweile allerdings dadurch gedämpft, dass die Annäherung an die EU das Problem schwacher Staaten und unvollendeter Staatsbildungsprozesse augenfällig macht. Bosnien-Herzegowina sticht dabei als "verhinderter Staat" besonders hervor. Im Frühjahr 1992 vollzog die ehemalige Teilrepublik mit der Unabhängigkeitserklärung ihre offizielle Herauslösung aus dem damaligen jugoslawischen Staatsverband. Von ihrem Recht auf Selbstbestimmung Gebrauch machend, sprachen sich die muslimischen und kroatisch-katholischen Bürger in einem Referendum mehrheitlich für die staatliche Selbstständigkeit aus; die serbisch-orthodoxe Bevölkerung dagegen folgte zu einem Großteil dem Boykottaufruf ihrer politischen Führung und votierte so für den Verbleib im jugoslawischen Staatsverband. Mit der kurz darauf von serbischen Politikern in Bosnien-Herzegowina ausgerufenen Republik Srpska begannen zugleich die ersten Kriegshandlungen und ethnische Vertreibungen, die im Verlaufe eines von 1992 bis 1995 lodernden Krieges das ehemals multiethnische und multireligiöse Leopardenfell, das für Bosnien-Herzegowina als charakteristisch galt, in ethnische Schwerpunktgebiete aufteilte.
Bereits im frühen Stadium des Krieges wurden UN-Friedenstruppen nach Bosnien-Herzegowina verlegt. Beauftragt, einen Frieden zu überwachen, den es nicht mehr gab, begann das Debakel einer von widerstrebenden Interessen geleiteten, internationalen humanitären Intervention. Diese wird mit dem Datum des nicht verhinderten Massenmords in der UN-Schutzzone Srebrenica im Juli 1995 auf Dauer assoziiert bleiben. Erst die militärische Intervention durch NATO-Truppen konnte den Weg für einen umfassenden Waffenstillstand ebnen. Mit dem Friedensabkommen von Dayton (DPA) wurde im November 1995 ein Ende der Kampfhandlungen und eine Übereinkunft der drei Kriegsparteien über die territoriale und politisch-administrative Einrichtung eines gemeinsamen Staates Bosnien-Herzegowina erzielt. Mit der Aufteilung Bosnien-Herzegowinas in zwei quasi-staatliche Entitäten (Republik Srpska und die bereits im Washington Agreement 1994 paraphierte kroatisch-bosniakische Föderation mit einer eigenen Unterteilung in zehn Kantone) wurde das fragile Gebilde eines zweigeteilten Staates dreier Nationen geschaffen.
Neben der militärischen wurde eine umfangreiche zivile Interventionsstruktur installiert, mit einem Hohen Repräsentanten (Office of the High Representative OHR) an der Spitze, der dem so genannten Friedens-implementierungsrat der Internationalen Staatengemeinschaft gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Während anfänglich 60.000 NATO-Soldaten für die Entwaffnung der Kriegsparteien und die Sicherung des Waffenstillstandes sorgten, nahmen sich unter dem Schirm des OHR multilaterale Organisationen wie UNO, UNHCR und OSZE an der Seite lokaler Autoritäten den zivilen Aspekten der Friedensimplementierung an. Damit wurde die doppelschichtige politische und administrative Struktur eines eingeschränkten Protektorats etabliert.
In der ersten Phase nach Kriegsende, in der Entwaffnung, physischer Wiederaufbau von Infrastruktur, Minenräumung und erste Flüchtlingsrückführungen im Vordergrund standen, zeichnete sich jedoch bereits ab, dass gegen den Widerstand durch Wahlen legitimierter lokaler Kräfte die Reintegration des Landes und der Aufbau gemeinsamer Strukturen kaum zu leisten sind.
So wurde auf der Bonner Konferenz des Friedensimplementierungsrates 1997 der Hohe Repräsentant mit als "Bonn Powers" bezeichneten Vollmachten ausgestattet, die ihn zur Entlassung von lokalen Amtsträgern, die sich dem Friedensprozess entgegenstellten, sowie zum Erlass von Gesetzen ermächtigten. Damit war die zweite Nachkriegsphase des logistischen und institutionellen State-Building eingeleitet. Durch den Einsatz der "Bonn Powers" konnten eine gemeinsame Flagge, Hymne und Währung eingeführt und Hindernisse beim Aufbau des staatlichen Grenzschutzes überwunden werden; Reformen im Justiz-, Zoll- und Steuerwesen kamen voran.
Andere Aspekte der Friedensimplementierung hingegen sind auf das Zusammenwirken lokaler und internationaler Anstrengungen zurückzuführen - etwa die nahezu vollständige Umsetzung der Ansprüche auf Eigentumsrückgabe und die Erfolge des Rückkehrprozesses. Im Verlauf der vergangenen Jahre konnten auf internationalen Druck in komplexen, lokalen Aushandlungsprozessen zwischen den politischen Vertretern und Eliten der drei konstitutiven Volksgruppen sogar die Integration der Sicherheitsdienste, ein gemeinsames Verteidigungsministerium, schließlich vor wenigen Wochen die Zusammenführung der künftig auf eine Berufsarmee reduzierten Streitkräfte unter einen Oberbefehl erreicht werden.
Dennoch agieren weiterhin ethnische Lobbies gegen Reformen zur Bekämpfung der Korruption und der organisierten Kriminalität, zum Umbau der Verwaltung wie zur weiteren Öffnung des wirtschaftlichen Wettbewerbs und stellen sich dem fortgesetzten Abbau im Krieg geschaffener und in der Nachkriegszeit teils noch befestigter Parallelstrukturen entgegen, die ihre jeweiligen Angehörigen mit Stellen und Posten versorgen konnten.
Wer also verhindert die Schaffung eines selbsttragenden Staates, der den Weg in die europäischen Strukturen finden kann? Schuldige sind leicht ausgemacht: Die ethnisch-nationalen Parteien, die Funktionäre staatlicher Versorgungsbetriebe, die Armee- und Veteranenverbände, die Gewerkschaften und Berufsorganisationen, der Klerus. Wie kann Bosnien-Herzegowina unter solchen Voraussetzungen vom verhinderten zum selbsttragenden Staat werden?
Ob die in Folge internationaler Interventionen errichteten Protektoratsstrukturen die Entwicklung demokratischer Gemeinwesen, rechtsstaatlicher Institutionen und Mechanismen von "good governance" auf Dauer nicht ebenso behindern wie fördern, kann in Bosnien-Herzegowina nun exemplarisch studiert werden. Bergen ihre Effekte nicht die Gefahr, aus dem verhinderten Staat einen "failed state" werden zu lassen? Nicht von ungefähr nimmt Bosnien-Herzegowina auf dem im Sommer 2005 veröffentlichten "Failed State Index" des US-Magazins "Foreign Policy" und des "Fund for Peace" auf einer Liste von 60 gefährdeten Staaten Rang 21 ein.
Die "Bonn Powers", in denen de facto die Gewaltenteilung aufgehoben ist, sind auf internationaler wie einheimischer Seite zum probaten Mittel der Umsetzung politischer Agenden geworden. Sie ersetzen oder verkürzen den langatmigen parlamentarischen Weg und entheben lokale Mandatsträger der Verantwortung, unpopuläre Entscheidungen vertreten und durchsetzen zu müssen. Jede so errungene Reform wird jedoch mit einer Delegitimierung von Kompromissbildung und Konsensfindung auf Seiten der Bevölkerung erkauft, die dem demokratischen Prozess zunehmend skeptisch, wenn nicht ablehnend oder mit Apathie begegnet.
Dies sind die Risiken und Nebenwirkungen, wie sie in Protektoratsstrukturen zu finden sind. Seit längerem wird daher etwa von der "European Stability Initiative" (ESI) die Änderung des internationalen Mandats angemahnt. Jüngst wurde dies in einem Bericht der "International Commission on the Balkans" auf die Aufforderung zugespitzt, dass sich die Europäische Union in Bosnien-Herzegowina verstärkt für einen Prozess des "Member State-Building" einzusetzen hat. Und nicht zuletzt der noch amtierende Hohe Repräsentant Lord Paddy Ashdown sieht die Zeit gekommen, die internationale Interventionsstruktur in Bosnien-Herzegowina in eine den EU-Beitrittsprozess begleitende, assistierende Präsenz umzuwandeln.
Wie weit sich Strukturen der Abhängigkeit und ein undemokratischer, politisch verschlampter Habitus ausprägen konnten, machen die abwehrenden Reaktionen sowohl mancher lokaler Politiker als auch von Vertretern der Zivilgesellschaft und der Medien deutlich, die in der Debatte über die Änderung des internationalen Mandats vernehmbar sind.
Die internationale, militärische und polizeiliche Präsenz muss angesichts des Sicherheitsrisikos, das organisierte Kriminalität, Korruption und rechstaatliche Fragilität nach wie vor darstellen, den Emanzipationsprozess stützen und absichern helfen. Auch in diesem Bereich ist die EU zum wichtigsten internationalen Akteur im Land geworden. Ende 2004 übernahm sie den Oberbefehl über die noch etwa 7.000 in Bosnien-Herzegowina stationierten Soldaten; nur ein kleines 300-köpfiges NATO-Kontingent ist noch im Land verblieben. Die UN-Mission beendete ihr Mandat bereits Ende 2002; eine europäische Polizeimission (EUPM) ist seitdem an der Weiterentwicklung der Strukturen innerer Sicherheit beteiligt.
Das UNHCR hat die Verantwortung für den Rück-kehrprozess bereits an lokale Autoritäten übergeben und steht heute in kleiner Besetzung assistierend zur Seite. Die OSZE legte 2002 die Durchführung von Wahlen in einheimische Hände.
Hat sich im Zuge der letzten Jahre der Fokus vom Krisenmanagement einer Postkonfliktgesellschaft auf den Aufbau eines tragfähigen Staates verlagern können, so stellt sich heute akut die Frage, wie unter den in Dayton geschaffenen, politischen und institutionellen Voraussetzungen die EU-Integration Bosnien-Herzegowinas zu leisten ist. Zweifelsohne kommt dem Dayton-Abkommen, das in diesem November sein zehnjähriges Jubiläum feiert, historische Bedeutung zu. Es konnte den Krieg endgültig beenden sowie Rahmenbedingungen für die feste Verankerung des Staatsgebildes im regionalen Umfeld schaffen. Die schwerfällige und strukturell wie politisch behinderte Entwicklung eines selbsttragenden, nach innen integrierten und in den Außenbeziehungen stabilen Staates dreier Volksgruppen wird heute jedoch wesentlich auf konstruktionelle Mängel in der Dayton-Verfassung zurückgeführt.
Ihre Änderung und Anpassung an Beitritts-Bedingungen der EU steht daher an und wird nicht zuletzt vom Europäischen Parlament gefordert.
Die Gesellschaft Bosnien-Herzegowinas ist heute entlang ethnischer Zugehörigkeit und mit ihr einhergehender, divergierender Erfahrungen, Interpretationen der Vergangenheit und Perspektiven auf Gegenwart und Zukunft tief gespalten. Bislang konnte die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft als Integrationsfaktor wirken. Dennoch lassen die Beitrittsbedingungen die Spaltungen und Spannungen deutlich zu Tage treten. Dies betrifft vor allem auch die Vorstellung vom institutionellen Aufbau des Staates.
Eine Reform der öffentlichen Verwaltung muss Bürokratie abbauen und Kosten senken, politische Entscheidungsprozesse systematisch verschlanken, in erster Linie aber ein effizientes, föderales System der politischen Repräsentation und Verwaltung entwerfen. Ein solcher Entwurf ist heute lokal zu meistern und zu verantworten. Beratendes Engagement von außen wird hierbei nötig sein.
Die Chancen eines lokal getragenen Verfassungsprozesses überwiegen seine Risiken. Ein solcher Prozess, der von den politischen Parteien mitzutragen ist, könnte im optimalen Fall einen Staat bilden, der es seinen Bürgern als Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen erlaubt, sich in ihm sicher, repräsentiert und anerkannt zu fühlen.
Dr. Caroline Hornstein Tomiæ war von 2001 bis Juni 2005 Leiterin der Außenstelle Sarajevo der Konrad-Adenauer-Stiftung.