Als die europäischen Eroberer Ende des 19. Jahrhunderts nach Afrika kamen, glaubten sie einen leeren Kontinent vorzufinden. Europa und die westliche Zivilisation sollte Modernität und Staatlichkeit nach Afrika tragen - erst als Einrichtung der Weißen, später progressiv auf "aufgeklärte" Afrikaner ausgeweitet. Bis heute gründet ein Großteil des europäischen Diskurses gegenüber Afrika und dem afrika- nischen Phänomen des Staatszerfalls auf diesem Muster, wonach das Staatswesen eigentlich für Afrikaner etwas Fremdes sei, das man entweder mit Entwick-lungshilfe - schon das Wort ist verräterisch - verankert oder mit militärischer Gewalt implantiert. Wenn demgegenüber Länder wie Somalia oder Liberia zeitweilig oder dauerhaft ihren Staat verlieren, gilt das als Rückfall in einen bedauernswerten Urzustand, der die Menschen dieser Länder aus der modernen Welt ausschließt.
Nichts von all dem ist wahr. Als Afrika die ersten europäischen Händler und Eroberer empfing, kamen diese als Gäste an Königshöfe und boten ihre Protektoratsverträge etablierten Herrschern an. Staaten mit Verfassungen, politischen Ordnungen, internen Machtkämpfen und äußeren Allianzen kannte Afrika genauso lange wie Europa: Eine der ersten geschriebenen Verfassungen der Welt entstand 1236 im Mandingo-Reich des heutigen Mali, kurz nach der Magna Charta in England. Mali war damals mit der Stadt Timbuktu eines der wichtigsten Länder der Erde und Quelle unermesslicher Reichtümer für das mittelalterliche Europa. Was die Europäer Ende des 19. Jahrhunderts nach Afrika brachten, war nicht Staatlichkeit, sondern dessen Abschaffung: Sie setzten die existierenden politischen Systeme per Federstrich außer Kraft und gründeten rassistische, ausbeuterische Militärverwaltungen, in denen die Bevölkerung nur noch als Arbeitskraft für die Exportwirtschaft oder als Steuerzahler für die Fremdherrschaft einen Wert hatte.
Als die koloniale Epoche in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts zu Ende ging, wurden nicht etwa die vor der Eroberung bestehenden afrikanischen Staaten wiederhergestellt, an die sich so mancher Bewohner zumindest aus Erzählungen noch gut erinnerte. Stattdessen wurden die kolonialen Verwaltungseinheiten zu Staaten erklärt und ihre Strukturen zu den Staatsstrukturen des unabhängigen Afrika. So entstanden auf der Weltkarte lauter Länder mit Phantasienamen, von denen kein Afrikaner je etwas gehört hatte. Aber sie hatten Sitze in den Vereinten Nationen, Botschaften in der ganzen Welt und Anerkennung bei Banken und Geberorganisationen; sie nahmen ausländische Kredite und Entwicklungshilfen entgegen, schlossen bindende Verträge mit Investoren und vertraten ihre Bürger gegenüber der Welt, ob die es wollten oder nicht. Kein Wunder, dass das einzige, was in vielen dieser Länder immer funktionierte, das Militär war - das intakteste Erbe der kolonialen Zeit.
Das bevölkerungsmäßig größte Land Afrikas, Nigeria, verdankt seinen Namen einer Laune der Ehefrau des britischen Eroberers dieses Gebietes vor hundert Jahren, Frederick Lugard. Bis heute sehen sich Nigerianer in der eigentlichen, persönlichen Identität nicht in erster Linie als Nigerianer, sondern als Angehörige ihrer Volksgruppen - Yoruba, ein kulturell unermesslich reiches Volk mit einer langen Geschichte; Haussa, Erben der mächtigsten Savannenkönigreiche des Kontinents; Igbo, Angehörige einer komplexen Gesellschaft mit dezentralisiertem Staatswesen und einer ausgeprägten Vorherrschaft im regionalen Handel; oder noch andere, kleinere Gruppen.
"Nigeria" gibt es nur in zwei Bereichen des Lebens - von Visa-Anträgen für das Ausland abgesehen: Zwangsdienst im Militär oder im "sozialen Dienst", in dem jeder Bürger des Landes aus seiner Heimatregion in einen anderen Landesteil verschickt wird und gemeinnützige Arbeit leistet; und in der Ölindustrie, der Goldesel des Landes, der nach den Regeln der globalisierten Wirtschaft arbeiten muss. Aber Militär und Öl sind immer nur Fassade. Wer dort Posten hat, kann um so ungenierter in der eigentlichen Gesellschaft Macht und Prestige ausüben - und das allein zählt. Kein Wunder, dass Nigeria als Dauerkandidat für Staatszerfall gilt. Wenn einmal weder militärische Macht noch Zugriff auf Ölreichtum die soziale Stellung mehr sichern sollten, sind die Tage Nigerias gezählt. Aber es würde lediglich bedeuten, dass die Nigerianer auf ihre wirkliche Geschichte zurückgreifen.
Versuche, diese Tendenzen durch Rückgriff auf eine neue "nationale Identität" zu konterkarieren, sind meist noch bizarrer. Man stelle sich vor, nach dem Zweiten Weltkrieg wären die Besatzungszonen in Deutschland allesamt zu eigenen Staaten geworden, und es gäbe als Wirtschaftsmotor der Region ein unabhängiges Nordrhein-Westfalen, das dann irgendwann die "fälische" Identität zur Nationalkultur ausrufen würde und jedem vermeintlichen Nicht-Falen das Daseinsrecht absprechen würde. Genau so "funktioniert" die moderne Elfenbeinküste, eine von vielen Provinzen des einstigen Französisch-Westafrika, die 1960 alle plötzlich eigenständige Staaten wurden. Die Elite in Abidjan hat die "Ivorität" als sinnstiftend deklariert und hält alle Bewohner, deren Vorfahren aus anderen Provinzen des Kolonialreiches kommen, für suspekt - dies ist die Wurzel des andauernden Bürgerkrieges, der dieses wirtschaftlich wichtigste Land des frankophonen Afrika zerreißt.
Das benachbarte Liberia erlebte ein Jahrzehnt des Staatszerfalls, bis es jetzt einigermaßen zur Ruhe fand. Schon der Name "Liberia" geht auf das imperialistische Bestreben von Missionaren aus den USA im frühen 19. Jahrhundert zurück, freigelassene schwarze Sklaven in ihrer vermeintlichen afrikanischen Heimat als "Freistaat" anzusiedeln.
Die Rücksiedler stammten zwar gar nicht von der "Pfefferküste", wie der unwirtliche Landstrich damals im 19. Jahrhundert von Händlern genannt wurde. Aber sie durften dort trotzdem einen eigenen Staat gründen und unterjochten die einheimische Bevölkerung gnadenlos. Kein Wunder, dass der Sturz der Herrschaft dieser "Ameriko-Liberianer" 1980 Auftakt für eine Epoche der Kriege wurde. Ein Nationalgefühl bildet sich dort höchstens als gemeinsame Erfahrung der Entbehrung und des Leidens heraus, ähnlich wie in anderen leidgeprüften Ländern wie dem Kongo.
Somalia, wo es seit 1992 keinen Staat mehr gibt, macht besonders gut deutlich, worum es beim Verschwinden des Staates geht. Als eines der wenigen Länder Afrikas ist es ethnisch homogen - die Somalis reklamieren sogar noch Dschibuti sowie Teile Äthiopiens und Kenias zu ihrer Nation dazu. Aber politisch homogen war die somalische Nomadengesellschaft mit ihrer dezentralen, auf Ausgleich zwischen Familienvätern gegründeten Struktur nie.
Der sozialistische Militärherrscher Siad Barre versuchte ab 1975, sein Land in die Moderne zu prügeln, mit massiver Militärhilfe erst aus der Sowjetunion und dann aus den USA, und führte gnadenlos Krieg gegen seine inneren Gegner. Als diese sich zusammentaten und Barre 1991 stürzten, fegten sie damit auch den verhassten Zentralstaat weg, der immer nur als Untredrückungsinstrument funktioniert hatte. Auf einen neuen Staat einigten sie sich nicht - Somalia wurde zum permanenten Bürgerkriegsland. Aber inmitten dieses Kriegszustands entwickelten die Somalis das modernste Banken- und Telekommunikationssystem Afrikas: Sie fügen sich ganz ohne Staat und damit viel freier in die moderne globalisierte Welt ein.
All diese Beispiele zeigen, dass das Phänomen Staatszerfall in Afrika nicht einfach zu deuten ist. Hinter jedem Auftreten des Staatszerfalls verbirgt sich immer die Frage: Wozu ist der Staat, der da zerfällt, eigentlich da? Hilft er den Bürgern oder hindert er ihr Fortkommen? Ist letzteres der Fall, dann ist der Zerfall ein Akt der Befreiung.
Mit der Bereitschaft, vorgefundene Strukturen bedenkenlos über Bord zu werfen, wenn sie dem Fortkommen der Gesellschaft hinderlich sind, bieten gerade die im Staatszerfall befindlichen Länder Afrikas dem Rest der Welt ein Vorbild. Durch prozedurale Bedenken lassen sich die Leute dabei nicht aufhalten. Nirgendwo sonst auf der Welt ist die Frage, was der Gesellschaft nützt und was ihr schadet, für so viele Menschen eine so unmittelbare Überlebensfrage wie in den meisten Teilen Afrikas - und auch der Staat muss sich dieser Frage stellen.
Dominik Johnson ist Auslands-Redakteur der "tageszeitung"
(taz) in Berlin.