Mit Blick auf die endlose Liste von Konferenzen, Initiativen und "Straßenplänen zum Frieden" muss die scheinbar naive Frage erlaubt sein, weshalb es zur Gründung des Staates Palästina noch immer nicht gekommen ist. Ein Verweis auf palästinensischen Terror und israelische Siedlungstätigkeit greift dabei zu kurz.
Seit wann existiert die Idee eines Staates Palästina? Diese Frage ist untrennbar mit dem Konzept einer "nationalen Heimstätte für das jüdische Volk" verwoben. Aus dem Paradox dieser engen Verbindung einerseits und der tiefen Feindschaft andererseits ergibt sich die eigentliche Tragik des Konflikts. Während es durch die Geschichte immer eine kleine Anzahl jüdischer Gemeinden in Hebron oder Jerusalem gegeben hatte, die mehr oder weniger friedlich neben arabisch-christlichen oder arabisch-muslimischen Nachbarn leben konnten, waren es die nationale Idee Theodor Herzls und die damit verbundenen Einwanderungswellen, die die nationale Idee "Palästinas" hervorbrachten. Als von 1882 bis 1903 in einer ersten "Alija" 30.000 Juden in das vermeintliche "Land ohne Volk" kamen, lebten dort 350.000 Menschen. Diese Christen und Muslime, Bürger des Osmanischen Reiches, fühlten sich als Araber, nicht als "Palästinenser". Es war das westliche Konzept der "nationalen Selbstbestimmung" von US-Präsidenten Woodrow Wilson und das des Völkerbundes, das sich nun auch die Palästinenser zu Eigen machten. Wilson vertrat im Rahmen seines 14-Punkte Programms vom 8. Januar 1918 die Ansicht, dass in Konfliktgebieten Abstimmungen über die Zugehörigkeit zu einer Nation durchgeführt werden sollten. Basierend auf dieser Idee schufen sich die Araber in Palästina einen konkurrierenden Nationalismus zum Zionismus. Das Prinzip der Selbstbestimmung machte den palästinensischen Nationalismus erst notwendig.
Während sich beide nationalen Konzepte entlang religiöser Begründungszusammenhänge konstruierten, ging es in der Realpolitik des 20. Jahrhunderts schlichtweg um Land. Mit der zweiten "Alija" bis 1914 war die jüdische Bevölkerung bereits auf 85.000 Menschen, bis zum Ende der fünften Einwanderungswelle 1939 auf 265.000 angewachsen. In der Zwischenzeit hatten sich die Spannungen zwischen den arabischen und jüdischen Gemeinden 1920/21 bereits einmal gewaltsam entladen. Pogrome und Vertreibungen ungeahnten Ausmaßes verankerten sich im kollektiven Gedächtnis beider Völker. Während die Vertreter der inzwischen 600 jüdischen Siedlungen im Teilungsplan der UNO 1947 einen ersten Meilenstein zur Gründung des Staates Israels sahen und ihm zustimmten, bedeutete er für die arabische Bevölkerung im britischen Mandatsgebiet und ihre vom Pan-Arabismus beseelten Führer der umliegenden Staaten eine Niederlage.
Während die einen am 14. Mai 1948 einen Gebietszugewinn (56 Prozent des ursprünglichen Mandatsgebiets) und ihre Unabhängigkeit feierten, sollten sich die anderen von nun an mit 43 Prozent des Landes zufrieden geben. Jerusalem, drittheiligster Ort des Islam, sollte als "Corpus Separatum", als international verwaltete Stadt, nicht zum arabischen Staatsgebiet gehören dürfen. Die erstmalige Proklamation eines palästinensischen Staates im gesamten ehemaligen Mandatsgebiet durch die "All-Palestine Government" in Gaza am 20. September 1948 war nur noch Makulatur. Bis Ende 1948 waren zwischen 600.000 und 750.000 Araber aus dem vom UN-Teilungsplan für Israel vorgesehenen Gebiet geflohen.
Nach Jahrzehnten der Ignoranz gegenüber dem Problem räumte die internationale Gemeinschaft am 15. Dezember 1988 dem Prinzip der Selbstbestimmung Vorrang gegenüber dem Prinzip der "Effektivität von Herrschaft" ein: Die Resolution 43/177 der UN-Generalversammlung änderte die Bezeichnung "PLO" mit einem Federstrich in den virtuellen "Staat Palästina", der nunmehr als solcher in allen UN-Organisationen geführt werden müsse. Georg Jellineks "Dreielementenlehre" wurde außer Kraft gesetzt. "Palästina" benötigte keine der drei völkerrechtlichen Anforderungen: ein klar abgegrenztes Territorium, eine ansässige (nicht immigrierende) Bevölkerung und eine effektiv wirksame, dauerhafte Herrschaft einer Regierung. Die Montevideo-Formel, die die Souveränität des Staates nach außen beschreibt, begrenzte den Eifer der Generalversammlung und beließ das Recht zu Verhandlungen wohlweislich bis zum heutigen Tag bei der PLO.
De facto begann mit der ersten Friedenskonferenz von Madrid 1991 ein zunächst unumkehrbar erscheinender Prozess der Staatsbildung, der über die Israelisch-Palästinensische Prinzipienerklärung vom 13. September 1993, das Gaza-Jericho-Abkommen (Oslo I) vom 4. Mai 1994, das Israelisch-Palästinensische Interim-Abkommen (Oslo II) vom 28. September 1994 bis zu den Wye-River-Abkommen (Oktober 1998 - September 1999) deutliche Erfolge brachte.
Die beiden Kriegslager näherten sich an, man trat in Gespräche ein, anerkannte die Legitimität der jeweils verhandelnden Delegationen und realisierte bis dahin Unerreichtes: freie Wahlen für die palästinensische Bevölkerung und das Einsetzen einer palästinensischen Regierung. Die Staatsbildung würde nicht aus dem Nichts kommen. Behutsam und unter Einhaltung demokratischer Regeln würden neben Israel ein geordnetes, rechtsstaatliches Gemeinwesen entstehen. Allein vom Staat Palästina war bis zum 30. April 2003, dem Tag der Veröffentlichung der so genannten "Road Map zum Frieden im Nahen Osten" durch das amerikanische Außenministerium, nie die Rede. Als am 8. November 1999 die Endstatusverhandlungen über die Frage der Flüchtlinge, der Siedlungen, des Wassers und der Zukunft Jerusalems begannen, ging die palästinensische Delegation davon aus, dass nun die Phase der Gespräche eingeleitet würde, an deren Ende der Staat Palästina ausgerufen werden könne. Es dauerte drei Monate, bis die palästinensische Seite die Verhandlungen abbrach. Auch der Gipfel von Camp David im Juli 2000 und die Verhandlungen von Taba im Januar 2001 scheiterten.
Stattdessen war in den Oslo-Verträgen das Prinzip der "Selbstbestimmung" erneut festgeschrieben worden und spiegelte sich auch im Namen des gegründeten Gebildes, das sich fortan Autonomiegebiete nennen durfte. Die staatlichen Insignien wie eigene Briefmarken oder das Hissen der palästinensischen Fahne täuschten jedoch nur darüber hinweg, dass keine wirkliche Souveränität hergestellt wurde. Im Gegenteil. Zwar schrieben die Vereinbarungen von Oslo der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) das "klar abgegrenzte Territorium" zu. Dieses belief sich jedoch selbst nach dem israelischen Truppenabzug vom März 2000 in den so genannten "A-Gebieten", in denen volle palästinensische Souveränität (zivil und militärisch) gegeben war, auf nur 17,1 Prozent der Westbank und des Gazastreifens. 23,9 Prozent des Gebietes waren unter gemeinsamer israelisch-palästinensischer und 59 Prozent beider Regionen unter alleiniger israelischer Kontrolle.
Während die internationale Gemeinschaft diese Regelung als Testfall für die Regierungsfähigkeit der PA in einer Interimsphase ansah, die nur bis zum Jahr 1999 hätte anhalten sollen, erlebte die palästinensische Bevölkerung vor Ort eine nie zuvor da gewesene Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit, die nun auf die A- und B-Gebiete beschränkt oder zumindest von einer Vielzahl von Checkpoints bestimmt sein sollte. Der rasante Anstieg der Bevölkerungszahlen in den israelischen Siedlungen und der Ausbau israelischer Infrastruktur gefährdeten das von der Bevölkerung erwartete zukünftige Staatsgebiet: Es schrumpfte. Mit dem Abschluss des Baus der geplanten 620 Kilometer langen israelischen Sicherheitsanlagen aus Mauer und Zaun, von der 490.500 Palästinenserinnen und Palästinenser direkt betroffen sind, ist das potenzielle Staatsgebiet in der Westbank auf 53 Prozent zusammengefallen. Darüber hinaus droht eine Ansammlung voneinander unabhängiger, nicht miteinander verbundener Kantone, kein Flächenstaat, der mit dem Gazastreifen verbunden wäre.
Als auch Israel 1949 in die UNO aufgenommen wurde, obwohl sein Territorium nicht exakt festgelegt war, machten viele Völkerrechtler geltend, dass eine "unabhängige Herrschaft mit Aussicht auf Dauer" ein bedeutenderes Kriterium zur Definition des Staates sei. Während auch die Autoren der "Road Map" des Jahres 2003 die Ausrufung eines vorläufigen Staates für denkbar hielten, stellen die Realitäten des Jahres 2005 sowohl die Lebensfähigkeit eines palästinensischen Staates in den Grenzen des verbliebenen Territoriums infrage als auch die Dauerhaftigkeit der jetzigen palästinensischen Herrschaftsstrukturen. Die Legitimität der Autonomiebehörde in der Bevölkerung schwindet stetig. Nie zuvor war ihr Gewaltmonopol so gefährdet wie heute. Ein Programm wie das der Hamas, das sich nicht auf ein nationales Recht auf Selbstbestimmung beruft, sondern religiös herleitet, erscheint vielen Palästinensern 57 Jahre nach dem UN-Teilungsplan weitaus glaubwürdiger als die säkular- nationalistische Ideologie der regierenden Fatah von Präsident Mahmoud Abbas.
Ein von palästinensischer Seite zwar noch immer offiziell geleugneter, aber für viele Menschen einzig sinnvoller Ausweg ist der der Emigration. Auf diese Weise ginge dem palästinensischen vorläufigen Staat auch noch der letzte Gründungszweck verloren: seine Bevölkerung. Allein die Stadt Qalqilya - fast vollkommen von einer Mauer eingeschlossen - hat laut Angaben ihres ehemaligen Bürgermeister Zahran zehn Prozent ihrer Bevölkerung verloren. Sollen sich die Zurückgebliebenen weiterhin zwischen zwei Lagern entscheiden müssen? Folgen sie der Argumentation der regierenden Fatah, deren instrumentalisierter Nationalismus kaum konfliktlösende Funktion hat, oder setzen sie auf die islamistischen Kräfte? Beide Alternativen haben bisher in eine Sackgasse geführt.
Palästina - wann? Israel braucht keine "autonomen Gebiete", sollte ein auf Scheitern angelegtes "Pseudo-Palästina" vermeiden. Die Palästinenser brauchen keine Selbstbestimmung im Sinne einer rein nationalen Bedürfnisbefriedigung. Beide Völker haben einen Anspruch darauf, sich aus der Zeit Woodrow Wilsons in die globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts zu begeben. In dieser globalisierten Welt lösen sich Nationalismen - nicht Nationen - auf. Sie werden ersetzt durch kollektive Zusammengehörigkeiten entlang von Projekten wie der Europäischen Union. Nur wenn sich beide Völker von nationalistischen Traditionen sowie der Vermischung von Nation und Religion lösen können, scheint ein Ausgleich möglich. Dies könnte den Weg frei geben, sich auch entlang gemeinsamer lokaler Interessen zu orientieren. Projekte der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit waren nie so dringend wie nach dem Mauerbau.
Michèle Auga war bis Juni 2005 für die
Friedrich-Ebert-Stiftung in Gaza tätig.