In Haiti, der einstigen französischen "Perle der Karibik" ist jede Nacht die "Nacht der langen Messer". Alle namhaften westlichen Hilfsorganisationen haben aufgegeben, dort ein Büro zu unterhalten. Westliche Reporter halten sich nur tage- oder stundenweise in Port-au-Prince, der so genannten Hauptstadt, auf, aus Angst, ausgeplündert zu werden. Wer irgendwie kann, verlässt dieses Land, das schon lange keines mehr ist. Auf waghalsigen Flößen versuchen immer wieder Tausende diesem Albtraum zu entfliehen, treiben über den Golf von Mexico nach Florida, dem "gelobten Land", wo neben den Hispano-Flüchtlingen von der Nachbarinsel Kuba ganze Orte das haitianische Creol-Französisch sprechen.
Einziger Nachbarstaat, der für Flüchtlinge auf dem Landweg zu erreichen ist, ist die im Osten gelegene spanischsprachige Dominikanische Republik. Aber dort stoßen sie auf Hass und eine Fülle von Vorurteilen, da die Haitianer in vielerlei Hinsicht so völlig "anders" sind als die Dominikaner: Sie sprechen Französisch, sind die Nachfahren afrikanischer Sklaven, sie sind bettelarm und gelten als hemmungslos gewaltbereit. Außerdem fürchten die ebenfalls armen Dominikaner, dass ihnen die Haitianer auch noch die wenigen Arbeitsplätze wegnehmen. Im August 2005 kam es nach Monaten der Spannungen zwischen tausenden von haitianischen Flüchtlingen und Dominikanern zu schweren Ausschreitungen. Drei Haitianer wurden lebendig verbrannt.
Die 7,5 Millionen Einwohner Haitis, davon fast die Hälfte unter 14 Jahren, zählen seit eh und je zum Armenhaus der westlichen Hemisphäre. Sie sind buchstäblich die Ärmsten der Armen. Die amerikanische "Ordnungsmacht" im Norden hat mehrfach versucht, diesem Chaos Einhalt zu gebieten. Zum letzen Mal am 29. Februar 2004. Präsident George W. Bush griff mit einer militärischen Blitzaktion ein, nicht nur, um ein Massenabschlachten in den Straßen von Port-au-Prince zu verhindern, sondern auch, um keine unkontrollierbare Flüchtlingswelle, vom Fernsehen dramatisiert, im damaligen Wahlkampf auf die USA zuschwimmen zu sehen.
Abgesegnet vom UN-Sicherheitsrat, landeten die USA in Haiti rund 2.000 Marines an, zum ersten Mal unterstützt von der französischen Fremdenlegion und kanadischen Einheiten, wieder einmal, um Ordnung herzustellen. Der bisherige Präsident Jean Bertrand Aristide und seine Familie wurden hastig mit einer amerikanischen Militärmaschine evakuiert und nach Afrika geflogen, wenige Stunden, bevor die gegen ihn meuternden Banden - in der Presse fälschlich "Rebellen" genannt - seinen Palast stürmen und ihn umbringen konnten.
Der seit Jahren zunehmend realitätsfern gewordene Präsident Aristide sprach damals von einer "Entführung", einem "amerikanischen Komplott". Davor waren die USA schon einmal mit einer Armee gelandet: 1994, als der damalige Präsident Bill Clinton eben genau diesem Aristide mit sage und schreibe 20.000 Marines wieder zur Macht verholfen hatte. Außerdem sollten die Marines dort zwei Jahre lang Nation-Building betreiben. Vor allem schwarze Bürgerrechtler innerhalb der Demokraten drängten Clinton zum Handeln. Ergebnis: Null. Haiti blieb, was es schon immer war: korrupt und unregierbar. Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1804 gab es 33 hatitianische Diktatoren, die offiziellen Präsidenten nicht mitgerechnet.
Es wären mehr, hätten die USA dieses blutige Treiben nicht von 1915 bis 1934 unterbrochen. Präsident Woodrow Wilson sandte 1915 zum ersten Mal die Marines nach Haiti, nachdem sieben Jahre hintereinander gegen sieben haitianische Präsidenten geputscht worden war. Die Amerikaner bauten rund 2.000 Kilometer Straßen, 210 Brücken, neun Flugplätze, verlegten Telefonleitungen, zogen Abwässerkanäle, bauten moderne Krankenhäuser und Schulen und rückten 1934 wieder ab, in der Hoffnung, alle Grundlagen für einen stabilen Staat gelegt zu haben. Damals nannte man dies weder Nation-Building noch "Entwicklungshilfe", sondern "Nachbarschaftshilfe".
François Duvalier - mit dem Beinamen "Papa Doc" - riss sich jedoch das Land unter den Nagel, gefolgt von seinem Sohn "Baby Doc", der 1986 unter Druck des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan außer Landes floh und so den Weg freigab für Wahlen. Papa und Baby Doc regierten das Land mit dem Terror ihrer Todesschwadronen, den "Tonton Macoutes", auf Creolisch "Schreckgespenster".
Genau mit dieser Methode, durch angeheuerte Mörderbanden, verschaffte sich Jean Bertrand Aristide nach der Wiedereinsetzung durch die USA im Jahr 1994 Respekt im eigenen Land und trieb es erneut in die Anarchie. Eine im Jahr 2000 durchgeführte Scheinwahl mit einer Wahlbeteiligung von fünf Prozent wurde selbst von der sonst großzügigen Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) als Betrug gebrandmarkt.
Vor eineinhalb Jahren entsendeten die Amerikaner keine Pioniere mehr zum Brückenbau und Ärzte für Krankenhäuser. Das Geld für Übersee-Einsätze ist auch in Washington dank der gigantischen "Irak-Hilfe" knapp geworden. Auch fragte sich die Bush-Regierung, in welches Loch sie vergeblich Geld pumpen soll - genauso wie Frankreich und Kanada, von denen die Haitianer keinen Cent erwarten konnten.
Auf diese Weise schwelen inzwischen schon all zu lange sämtliche Konflikte in der Region: In Kolumbien herrscht der längste Bürgerkrieg der Welt - seit 1957. Mindestens 1.000 so genannte amerikanische Militärberater versuchen seit Bill Clintons "Krieg gegen Drogen" 1993, die kolumbianischen Drogenkartelle zu zerschlagen. Der Autokrat Hugo Chavez in Venezuela zündelt am Öl-Hahn seines Landes und stänkert gegen die USA. Der letzte Kommunist Lateinamerikas, Fidel Castro, produziert - trotz oder wegen des sturen Boykotts der USA - seit mehr als 45 Jahren Tausende von Flüchtlingen jährlich, die Miami in ein Ersatz-Kuba verwandelt haben.
Auch in den Andenstaaten brodelt es: In Bolivien stürzten vor einem Jahr Indianer ihren Präsidenten. Dort ist der Anbau von Coca offiziell erlaubt. Peru bleibt nach Fujimoris Sturz im Jahr 2000 ebenfalls anfällig für Drogenanbau und -handel. Ecuador ist bankrott und hat den US-Dollar als Landeswährung übernommen. Der Gigant Brasilien sieht sich außerstande, die durch extreme Armut hervorgerufene Anarchie in den Großstädten zu bekämpfen, geschweige denn unzugängliche Grenzgebiete zu kontrollieren. Frank J. Gaffney, Präsident des Zentrums für Sicherheitspolitik in Washington, wies vor einem Jahr darauf hin, dass sich im Dreieck Brasilien, Paraguay und Argentinien islamische Terroristen mittels Bestechungsgeldern Verstecke und Trainingslager erkaufen.
Alle weltwirtschaftlichen Strukturen der Neuzeit - insbesondere die Pseudo-Kredithilfen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds - haben Lateinamerika und die Karibik in eine dramatische Schuldenkrise gestürzt. Schon Anfang der 70er-Jahre sprach der uruguayische Journalist Eduardo Galeano von den "offenen Adern Lateinamerikas". Das schlimmste Beispiel Haiti zumindest sollte für Washington und Europa ein Weckruf sein: Nation-Building funktioniert nicht mit der Entsendung von ein paar Kompanien Fallschirmjäger und ein paar Millonen Dollar Startgeld. Weder in Lateinamerika, noch in Afrika, Asien oder Arabien.
Doch was passiert stattdessen? In Haiti werden am 6. November mit Unterstützung der UNO und den USA Präsidentschaftswahlen abgehalten. Die Weltgemeinschaft tut so, als gäbe es ein Land, wo dies möglich ist und Sinn macht. Ernsthaftes Nation-Building in Haiti hieße ein auf Jahrzehnte angelegtes Projekt, ähnlich wie auf dem Balkan, mit dem erst einmal Hunger und Chaos beseitigt werden. Dann lohnt es sich, Schulen und politische Strukturen aufzubauen. Erst danach kann man an Selbstverwaltung und Eigenverantwortung arbeiten.
Die USA haben mit ihrem 19 Jahre währenden Versuch zwischen 1915 und 1934, Haiti als Staat aufzubauen, das Land zusehr wie eine Kolonie behandelt. Deshalb wäre in diesem Fall eine multinationale Zusammenarbeit tatsächlich sinnvoll. Aber die Franzosen und Kanadier haben schon wieder resigniert, wollen schnellstmöglich aus Haiti abziehen und das Land sich erneut selbst überlassen - bis zur nächsten Invasion.