Schon lange vor ihrem Engagement in Somalia, Haiti und auf dem Balkan in den 90er-Jahren war die US-Army im Einsatz, um krigerische Konfliktparteien zu trennen, für Ordnung und Stabilität in der zwischen den Fronten stehenden Zivilbevölkerung zu sorgen und Bedingungen für freie und gerechte Wahlen zu schaffen.
Der "failed state", in dem dieser Einsatz stattfand, lag nicht am Horn von Afrika oder in der Karibik, sondern in den Vereinigten Staaten selbst, westlich des Mississippi. "Bleeding Kansas" ("blutendes Kansas") war in den 50er-Jahren des 19. Jahrhunderts ein Territorium der Vereinigten Staaten, das nach Eigenstaatlichkeit strebte. Die Frage war indes: sollte Kansas mit dem Beitritt zur Union ein Staat mit oder ohne Skalverei werden.
Über die anstehende Aufnahme des sklavenhaltenden Mittelwest-Staates Kansas in die Union war es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern der Sklaverei in Kansas gekommen. Deshalb entsandte 1856 der damalige Präsident Franklin Pierce die US-Army. Sie sollte genaue Informationen und Erkenntnisse über die Greueltaten einholen und klären, wie mit den irregulären, aufständischen Milizen und der sie unterstützenden Bevölkerung umgegangen werden sollte.
Die Aufgabe, einen Aufstand niederzuschlagen entsprach zunächst nicht dem Verständnis der US-Army. Doch durch strenge Unparteilichkeit schuf die Army schließlich jenen "politischen Raum", in dem der neue Gouverneur seine Legitimität und Autorität etablieren konnte. Die Armee versuchte zum Beispiel nicht, die Grenze zu Missouri, einem Sklavenhalterstaat, abzuriegeln, obwohl aus dem Nachbarstaat viele bewaffnete Befürworter der Sklaverei nach Kansas einsickerten, um dort zu kämpfen. Sie hinderte aber auch Sklavereigegner nicht an der Einreise nach Kansas. Denn, so die damalige Überlegung: Das Abriegeln der Grenzen von Kansas durch die Bundes-Armee hätte diese dem Vorwuf aussgesetzt, sie unterstütze eine der beiden Seiten. Somit bestand die Gefahr, die Bundestruppen könnten eher zu einer Eskalation der Gewalt bis hin zum Bürgerkrieg beitragen als die Lage beruhigen.
Die erfolgreiche Staatenbildung in Kansas hing aber letzlich doch von der Politik ab. Ein neuer Gouverneur verzichtete beispielsweise auf die Bestrafung der Verantwortlichen beider Konfliktparteien, setzte aber die Auflösung der offiziellen Miliz von Kansas durch und bildete eine neue Landesverteidigung aus Offizieren beider Lager. Diese unterstellte er dem Oberkommando der US-Army.
Letztendlich erwiesen sich Frieden und Ordnung in Kansas nur als vorübergehend haltbar. Obwohl Kansas wenige Jahre später kaum in den amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) hineingezogen wurde, nutzten Befürworter und Gegner der Sklaverei die Unruhe im Land, um alte Rechnungen aus den 1850er-Jahren zu begleichen.
Indes: Dass in den USA ein Bürgerkrieg ausbrach, schmälert nicht den Erfolg der US-Army bei der Erfüllung ihrer Mission in Kansas im Jahr 1856. Warum also wurde in der institutionellen Erinnerung und dem kollektiven Bewusstsein der US-Army in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts diese Tradition der Friedensschaffung so wenig gewürdigt? Und warum war die US-Army in Afghanistan seit 2001 und in Irak seit 2003 nicht besser in der Lage, zügig auf ihre taktische, operationelle und strategische Erfahrung im Nation-Building zurückzugreifen?
Wie die Rolle der Army im "blutenden Kansas" zeigt, sammelte sie nicht erst im besetzten Deutschland und Japan nach 1945 relevante Erfahrungen in der Staatenbildung, sondern schon viel früher in der Geschichte, an der Westgrenze der USA. Doch diese Erfahrung hat keinen bleibenden Eindruck in der institutionellen Kultur, der Ausbildung oder der Doktrin der US-Army im 20. Jahrhundert hinterlassen.
So wie die Rolle der US-Army nach dem amerikanischen Bürgerkrieg in der Wiederaufbau-Phase an Bedeutung verlor, so verblassten auch die Erfahrungen, die in Kansas gesammelt worden waren. Und nach 40 Jahren des Kalten Krieges verwob sich das Selbstbild der US-Army eng mit der Stationierung schwer bewaffneter Truppen an der zentralen NATO-Frontlinie, der innerdeutschen Grenze, um die sowjetischen Truppen abzuschrecken und, wenn notwendig, zu besiegen.
Die US-Army musste seit 1995, als sie in Bosnien zur gleichen Friedenssicherung wie damals in Kansas stationiert wurde ihre Lektion hinsichtlich Staatenbildung völlig neu erlernen: Genauso wie in Kansas ist und bleibt es von zentraler Wichtigkeit, Zurückhaltung und Unparteilichkeit bei der Friedenssicherung zu üben und eng zwischen Militär- und Zivilbehörden zusammenzuarbeiten, denn zivile Legitimität ist letztendlich der Schlüssel für einen erfolgreichen Übergang von militärischer Besatzung zu demokratischer Staatsführung.
Von besonderer Bedeutung ist auch, dass die heutigen Offiziere der US-Army in Afghanistan und Irak seit 2001 mit einer Realität konfrontiert sind, die ihren Vorgängern an der Grenze von Kansas nur allzu bekannt war: der Unmöglichkeit, taktisch-operationelle und strategisch-politischen Entscheidungen voneinander abzugrenzen.
In der Ungewissheit und Vieldeutigkeit von Friedenssicherung und Nation-Building haben alle taktischen und operationellen Entscheidungen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch strategische Konsequenzen. Von Somalia bis Irak hat die neue Generation von Offizieren diese Lektion neu gelernt. Sie sollte nicht wieder vergessen werden, so wie im 20. Jahrhundert.
Es wird für die Rolle Amerikas in Friedenssicherungsmissionen und Nation-Building in den kommenden Jahren von entscheidender Wichtigkeit sein, dass diese Lektion und ihre Bedeutung für Doktrin und Ausbildung Eingang in die Institutionskultur der US-Army findet.
Übersetzt aus dem Englischen durch den Sprachendienst des Deutschen Bundestages.
Dr. Campbell ist Professorin für "National Security
Studies" an der Air University, Maxwell Air Force Base, Alabama.
Dr. Mullis ist außerordentlicher Professor für
Strategisch-operationelle Studien am Command and General Staff
College, Fort Leavenworth, Kansas. Die hier wiedergegebene Meinung
ist die der Autoren, nicht der US-Regierung.