Der Schrifsteller Günter de Bruyn war schon in der Zeit der deutschen Teilung ein "gesamtdeutscher" Autor. Seine Bücher fanden sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik viel Zuspruch. In den vergangenen Jahren hat sich de Bruyn, der im märkischen Görsdorf bei Beeskow südöstlich von Berlin lebt, Themen der brandenburgisch-preußischen Geschichte zugewandt; sein neues Buch ist für ihn expressis verbis eine "Liebeserklärung" an seine märkische Heimat. Er taucht dabei tief in die Geschichte des kleinen Ortes ein und nimmt ihn als Beispiel für Entwicklun- gen der Mark insgesamt. "Des Heiligen Römischen Reiches Streusandbüchse", wie sie seit Jahrhunderten genannt wurde, war von der Natur - abgesehen von Wasser und Wald - nicht eben reich gesegnet. Das Leben der Menschen war und ist hart; landwirtschaftlicher Ertrag musste den Böden mühsam abgerungen werden. Ein bescheidener Wohlstand hat sich erst sehr langsam und spät eingestellt.
De Bruyns Buch ist ein Geschichtsbuch der Mark. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die gleichermaßen harte und fürsorgliche Hand der preußischen Herrscher überall spürbar. Die Bauernbefreiung im Zuge der Stein-Hardenbergschen Reformen erwies sich dann für viele Bauern als keineswegs so segenbringend, wie es aus der Rückschau scheint; das märkische Landproletariat gab es dann bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts.
Der Autor bringt über den sowjetischen Vormarsch im Frühjahr 1945 mehrere Berichte; man weiß, die Rache der Sieger war furchtbar, für die Hybris der NS-Führung mussten auch hier die kleinen Leute bezahlen. Gegen Ende seines Buches, das dichterische Imagination und historische Genauigkeit zusammenfügt, verklärt de Bruyn am Beispiel einer alten Dorfkirche die Mark als Ort der Stille und Besinnlichkeit in unruhiger Zeit: "Die Hektik der Zeit, die Rückbesinnung verbietet, scheint von der efeubewachsenen halbhohen Mauer ferngehalten zu werden. Sie bewahrt, wer weiß wie lange, das Beste, das wir hier haben: eine unzeitgemäße Stille."
Noch immer gilt es als gute Verlagstradition, einem Autor die Treue zu halten, auch wenn die Moden schwanken und nicht immer Konjunktur für ihn herrscht. Der Rostocker Hinstorff-Verlag betreut seit Jahren in vorbildlicher Weise das Werk des Schriftstellers Franz Fühmann (1922-1984). Fühmann, aus dem Böhmischen stammend, lebte in der DDR; von einem systemtreuen Anhänger des Systems wandelte er sich mehr und mehr zu einem kritischen Schriftsteller, den schließlich die Staatssicherheit für so gefährlich hielt, dass sie ihn überwachen zu müssen glaubte.
Im Jahre 1967 hatte er den Auftrag erhalten, zum 20. Jahrestag der DDR im Oktober 1969 ein Loblied zu schreiben. Auf den Spuren von Theodor Fontanes "Wanderungen" sollte er ebenfalls durch die Mark streifen - festgelegt wurde der weitere Umkreis um Fontanes Geburtsstadt Neuruppin - und von den Aufbauleistungen der jungen DDR in der Landwirtschaft berichten. Zu diesem Zeitpunkt waren die großen Umwälzungen wie Bodenreform und Kollektivierung vorbei; die Zeit für eine erste positive Zwischenbilanz schien gekommen.
Fühmann war guten Willens, ja, er machte sich geradezu mit Feuereifer ans Werk, wohl weil auch er von den offiziellen Fortschrittsparolen zutiefst überzeugt war. Zweimal war er unterwegs, einmal in den letzten beiden Monaten des Jahres 1967, dann noch einmal im Sommer 1968. Aber dabei kam es anders; Fühmann kehrte völlig desillusioniert zurück und sah sich außerstande, einen positiven Bericht abzuliefern. Seine mit immensem Fleiß gemachten Aufzeichnungen blieben in der Schublade und sind erst jetzt - in einer vorbildlichen Edition mit genauem Anmerkungsapparat, Register und mit Fühmanns Extra-Exzerpten - von Mitarbeitern der Akademie der Künste in Berlin zugänglich gemacht worden.
Das Buch fasziniert von der ersten Seite an, weil Fühmann in einem sehr direkten Stil schreibt und weil man buchstäblich eine Wandlung vom Saulus zum Paulus miterlebt. Fühmann glaubt, die vielgepriesenen Errungenschaften des Sozialismus wie LPG, MTS (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, Maschinen-Traktoren-Station) und gemeinsame Bewirtschaftung unmittelbar zeigen zu können. Aber fast immer erlebt er das Gegenteil: Es hapert an Material und Gerät, die Koordination klappt nicht, eine starre Bürokratie geht an den alltäglichen Notwendigkeiten vorbei, und fast am schlimsten sind die menschlichen Reibereien. Wie es denn mit der Kooperation klappe, fragt Fühmann einen LPG-Vorsitzenden: "Es ist schon theoretisch nicht einfach. In der Praxis schaut das zur Zeit so aus: Wenn sich die leitenden Kader nicht sympathisch sind, stirbt die Kooperation. Man geht noch nicht vom ökonomischen Vorteil aus, sondern vom persönlichen Verhältnis. Wenn einer schlecht geschlafen hat, dann kündigt er die Kooperation auf."
Glanzstücke des Buches sind die kräftigen Menschenschilderungen: Fühmann spricht mit engagierten LPG-Vorstehern, die unendlich mühsam etwas voranbringen; er findet resignierende ältere Menschen, stumpfsinnige Jugendliche, die nur saufen und randalieren, dann auch voller Idealismus arbeitende Frauen in Bildung und Verwaltung. In historischen Quellen findet er das unglaublich harte Leben der Märker:
"Eine legendäre Botenfrau aus dem vorigen Jahrhundert. Zweimal mit einer Kiepe Waren von Wustrau nach Neuruppin gebracht. Einmal von Wehen überrascht, unterwegs im Siebgraben ein Kind geboren, abgenabelt, auf die Kiepe gelegt, in der Stadt bei der Hebamme hinterlegt, dann Waren ausgetragen wie immer. Sehen Sie, das ist der Märker. Wir haben Deutschland viel Kraft gegeben, viel standhaftes Blut!"
Fühmann hat auch Augen für das "Abenteuer der Landschaft" - für das Luch, die Moore und Wälder, für alte Schlösser und Kirchen. Aber am Ende resigniert er; er kann nicht jubeln und spürt auch, dass er hier nicht hinpasst: "Ich will dankbar sein, ehrlich dankbar. Die Reisen nach Preußens Schoß haben mir deutlich gemacht, was ich eigentlich bin: ein österreichischer Schriftsteller."
Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk gilt in seiner Heimat als "shooting star". Seine bissigen Texte über Themen aus gesellschaftlichen und geografischen Rändern haben ihn auch bei uns bekannt, ja inzwischen berühmt gemacht. Stasiuk hat einen Blick für die Dinge am Rande, für das scheinbar Nebensächliche, das bei ihm zum Prisma der heutigen Wirklichkeit wird. Er sagt von sich selbst, dass er eine "Freude am Defätismus" habe.
Stasiuk reist regelmäßig durch Ost- und Südosteuropa. Gleichermaßen mit Häme und mit Anteilnahme sieht er die Reste des untergegangenen Sozialismus - "mich interessiert der Schwund, der Zerfall". Und den Zerfall sieht er überall, in den Balkanstaaten, in den rumänischen, slowakischen, moldawischen Dörfern, in den Weiten der ungarischen Tiefebene, die für den Leser schier erdrückend wird, im Donaudelta, wo die Welt zu Ende ist. Es sind virtuose Menschen- und Landschaftsbeschreibungen, deren Suggestion man sich kaum entziehen kann: "Ja, ich liebe dieses balkanische Chaos, das ungarische, slowakische, polnische, diese wunderbare Schwerkraft der Materie, diese herrliche Schläfrigkeit, dies Pfeifen auf die Tatsachen, die konsequente Sauferei am Mittag und die glasigen Blicke, die mühelos durch die Wirklichkeit hindurchgehen, um sich furchtlos dem Nichts zu öffnen." Dem Nichts - Stasiuk zeigt, wie nahe wir alle letztlich am Nichts leben.
Bis 1939 lebten in den ost- und südosteuropäischen Ländern rund vier Millionen Deutsche. Sie waren Jahrhunderte zuvor ins Land gekommen, gerufen vom Zaren, von den Habsburgern, oder getrieben von Hunger und Not in den süddeutschen oder sächsischen Landen. Heute ist das eine Welt von gestern, der Krieg hat auch hier furchtbar "tabula rasa" gemacht.
Karl-Markus Gauß, dem wir schon mehrere einfühlsame Berichte aus dem Osten verdanken, hat sich jetzt auf die Spuren der letzten Deutschen gemacht. Es gibt sie noch, entweder als "deutschstämmig" in die jeweiligen Länder verwoben oder als deutsche Minderheit sehnsüchtig auf die Ausreise nach Deutschland hoffend. Gauß fand sie im Memelland in Litauen, in der Bergregion Zips im äußersten Osten der Slowakei ("wir wurden 1945 einfach vergessen") und in Städten und Kolonien im Umkreis von Odessa.
In Litauen haben sich diese Menschen arrangiert; EU-Mitgliedschaft und Reisemöglichkeiten haben die mentale Distanz zum Land fast aufgehoben. In der slowakischen Zips, dem hintersten Winkel des Landes, wird der Leser Zeuge einer zu Ende gehenden alten Kultur, auch wenn sie in rührenden Festen und Zeremonien immer wieder beschworen wird.
Rund um Odessa wohnen viele auf Ausreise hoffende Deutsche in den Beresaner, den Kutschurganer und den Großliebentaler (!) Kolonien. Die Zarin Katharina hatte die Deutschen einst ins Land gerufen. In unzähligen Gesprächen mit Gauß werden das Auf und Ab im Leben der Menschen, werden Deportation, dürftigste Lebensverhältnisse und mitunter dann auch wieder vitaler Lebenswille mit den Chancen auf einen neuen Erfolg deutlich. Der Autor ist ein Meister der Beobachtung und der Milieuschilderung; den Leser stimmt das Buch fast wehmütig angesichts einer sich wohl endgültig auflösenden Kultur.
Günter de Bruyn
Abseits. Liebeserklärung an eine Landschaft.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2005; 202 S., 19,90 Euro
Franz Fühmann
Das Ruppiner Tagebuch.
Auf den Spuren Theodor Fontanes.
Hrsg. von Barbara Heinze und Peter Dehmel.
Hinstorff Verlag, Rostock 2005; 544 S., 29,90 Euro
Andrzej Stasiuk
Unterwegs nach Babadag.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2005; 304 S., 22,80 Euro
Karl-Markus Gauß
Die versprengten Deutschen. Unterwegs in Litauen, durch die Zips und am Schwarzen Meer.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2005; 238 S., 21,50 Euro