Charlie Chaplins "Der große Diktator" sah ich das erste Mal mit 13 oder 14 Jahren. Das war am Ende der Adenauer-Ära, in der viele Mitläufer und Mittäter des Dritten Reiches wieder zu Amt und Würden gekommen waren und in der Rückschau auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 der allgemeine Tenor vorherrschte: Das ist zwar alles schlimm gewesen, aber es gab auch Gutes. Immerhin hat Adolf Hitler die Autobahnen gebaut.
Chaplin war viel klüger, und zwar schon lange, bevor in der Bundesrepublik der Muff von tausend Jahren aus den Talaren der Richter und Henker geschüttelt wurde. Als er 1940 seine Satire gegen Hitler drehte, konnte er zwar nicht jedes Detail aus dem Innenleben des nationalsozialistischen Deutschland kennen. Und natürlich konnte er nicht wissen, dass es nur kurze Zeit später die so genannte "Endlösung" geben würde, den millionenfachen Mord an jüdischen Mitmenschen. Aber er muss wohl geahnt haben, dass Hitlers Politik darauf hinauslaufen wird, und wollte dieser grausamsten aller Visionen mit seinen Mitteln entgegentreten.
Seine Mittel bestanden darin, den "Führer" lächerlich zu machen, ihn dem Spott der Welt auszusetzen, ihn als aufgeblasenen Provinztyrannen zu zeigen, dessen mit Dummheit und Brutalität gepaarte Egozentrik Schlimmes befürchten lässt. Zugleich ging er über den bloßen Spott hinaus und gab seiner Sehnsucht nach Frieden und Verständigung Ausdruck. Er trat aus den beiden Rollen, die er im Film spielte - der Rolle des Diktators Hynkel und der des kleinen jüdischen Friseurs - heraus und redete, nunmehr als Charles Spencer Chaplin selbst, zu seinem Publikum: "Im Namen der Demokratie, vereinigen wir uns!"
Jedes Mal, wenn ich den "Großen Diktator" sehe, zieht mich dieser lange, erschütternde Schlussmonolog in seinen Bann - ein Monolog, der direkt auf Chaplins US-amerikanische Landsleute zielte, bis hin zum Präsidenten Roosevelt, der sich 1940 noch nicht durchringen konnte, in den Krieg gegen Hitler einzutreten. Nachdem das endlich doch geschehen war, plädierten starke Kräfte in den Vereinigten Staaten für weitgehende Nichteinmischung: Deutschland und die Sowjetunion sollten sich erst einmal zerfleischen, dann würde man weitersehen. Noch zwei Jahre nach der Premiere des "Großen Diktator", im Juli 1942, hielt Chaplin übers Telefon eine Rede, der tausende Amerikaner im Madison Square Garden lauschten und in der er die zweite Front gegen Deutschland, die Westfront, dringend anmahnte. Chaplin, der Komiker und Tramp, mischte sich mit all seiner Kraft, auch außerhalb des Kinos, für die Niederschlagung der Faschisten ein.
Was mich an "Der große Diktator" vor allem fasziniert, ist die metaphorisch überhöhte Art, mit der Chaplin das "Böse" charakterisierte. Zum Beispiel fasste er Hitlers Pläne, die Welt zu erobern, in einer Szene zusammen, in der Diktator Hynkel zu Musik von Richard Wagner mit der Weltkugel tanzt. Hynkel ist von sich selbst fasziniert: ein Nazi und Narziss. Dass er die Kugel sogar auf einem Finger seiner Hand kreiseln lassen kann, erfüllt ihn mit tiefer Befriedigung. Die Welt zu beherrschen, ist für ihn wie guter Sex. Dann platzt die Kugel, sie war nur ein Luftballon, der Diktator hat ausgeträumt, er wird in die Realität zurückgeschleudert, die er aber im nächsten Moment wieder auszublenden weiß. Es gibt in der ganzen Filmgeschichte kein besseres, zum Symbol verdichtetes Motiv für den Größenwahn Hitlers als dieses.
Auch dem italienischen "Duce" Benito Mussolini wischte Chaplin eins aus. Im Film heißt er Napaloni und kommt zum Staatsbesuch bei Adenoid Hynkel angereist. Die Ankunft am Bahnhof gerät zu einer tolldreisten Farce. Zwei selbstverliebte Möchtegern-Napoleons rennen sich auf dem Bahnsteig nach. Dann konferieren sie über das Land "Austerlitz", das zwischen ihren beiden Staaten liegt und von dem sich jeder ein Stück abschneiden will. Der Diktator und sein feister Freund erweisen sich hier als erbitterte Konkurrenten um Boden, Macht und Einfluss. Es sind böse Karikaturen, aber in Chaplins ausgeklügelten Verzerrungen werden die wahren Gesichter der echten Diktatoren deutlich.
Es wurde immer wieder darüber gerätselt, ob Chaplin dieses Filmprojekt nicht auch deswegen realisiert hat, weil ihm eine gewisse äußere Ähnlichkeit zwischen sich und Adolf Hitler aufgefallen sei. Tatsächlich sind beide ja im selben Jahr, 1889, geboren; Chaplin war nur vier Tage älter als Hitler. Dieser wiederum, so munkelte man, sei von Chaplins Bärtchen so beeindruckt gewesen, dass er sich selbst einen entsprechenden Schnauzer zugelegt habe. Für mich sind solche Legenden ziemlich nebensächlich.
Wirklich wesentlich ist, dass Charlie Chaplin schon 1940 den Mut und die Kraft hatte, das "Böse", Kriegslüsterne und Ahumane kenntlich zu machen, gegen Widerstände im eigenen Land, etwa gegen jene, die meinten, man müsse sich mit dem faschistischen Deutschland gut stellen, weil das ein potenzieller Absatzmarkt sei. Vielleicht trug Chaplin mit seinem "Großen Diktator" sogar dazu bei, den durchaus nicht so schwachen faschistischen Strömungen in den USA einen Riegel vorzuschieben. Auf jeden Fall bedeutete das überlegene Lachen, das vom "Großen Diktator" ausging, nicht nur eine Entlarvung der Banalität des Bösen, sondern auch einen Triumph der Demokratie.
Dieter Kosslick ist seit 2001 Leiter der Internationalen Filmfestspiele Berlin.