Es mag erstaunen, dass die Bolschewiken bis 1929 brauchten, bevor sie die Filmindustrie verstaatlichten. Lenin hatte, so wird kolportiert, die politische Wichtigkeit des Mediums zwar erkannt, aber eingesehen, dass materielle (und künstlerische) Ressourcen für eine staatliche Filmindustrie nicht in ausreichendem Maße vorhanden waren. Andere Dinge hatten Vorrang. In dieser vergleichsweise freizügigen, noch nach 1924 anhaltenden Übergangszeit wurden künstlerisch hochrangige Filmprojekte wie Sergej M. Eisensteins meisterhafter Agitationsstreifen "Panzerkreuzer Potemkin" ("Bronenosez Potemkin", 1925) oder Wsewolod Pudowkins bilderstürmende Gorki-Adaption "Die Mutter" ("Mat", 1926) produziert.
Die Unterlassung, das breitenwirksame Kino nicht ebenfalls zum Gegenstand der Kulturrevolution erhoben zu haben, wurde von Stalin nach Festigung seiner absolutistischen Position korrigiert. Einhergehend mit Säuberungsaktionen stand das sowjetische Filmschaffen fortan unter strenger Vormundschaft. Projektierung, Produktion und Verleih benötigten jetzt die Genehmigung zentraler Gremien: Gedreht und gezeigt werden durfte nur, was die Kontroll- und Zensurbehörden abgesegnet beziehungsweise freigegeben hatten - ein Zustand, der trotz zeitweiliger Liberalisierungsphasen bis 1989 anhielt.
Die Planungskader der Partei beschlossen, verstärkt Spielstätten zu bauen und mehr Filme in kürzerer Zeit zu produzieren. Für jeden verständliche Streifen mit einfachen Geschichten sollten gedreht werden, die zwar - gewissenhaft, aber nicht zu plakativ - das Hohelied auf Klassenkampf und Kollektivgeist singen, zudem aber auch über einen gewissen Unterhaltungswert verfügen sollten. Banale Komödien gehörten in den 30er-Jahren ebenso zum Repertoire wie Musicals mit fröhlich auf heimischer Scholle tanzenden Kolchosbauern. Weniger massentaugliche Zerstreuung, also Filme mit intellektuellem Anspruch und/oder formal außergewöhnlicher beziehungsweise experimenteller Machart, stand man in Moskau dagegen ablehnend gegenüber. "Formalismus" und "Dokumentalismus", so die Schlagwörter, wurden gerügt und bei Eisensteins "Oktober" ("Oktjabr", 1927) "Effekthascherei" und eine nicht tief genug gehende Darstellung der proletarischen Bewegung entdeckt. Eisenstein, der auf höhere Weisung zudem alle Szenen mit Leo Trotzki aus seinem zum zehnjährigen Jahrestag der Revolution geplanten Werk herausschneiden musste, wird vermutlich auch diesen Rüffel fatalistisch ertragen haben.
Egal wie, einem Diktator wie dem mit eiserner Hand herrschenden Georgier konnte es auf Dauer keiner recht machen. Die Folge: 1939 enthob Stalin, der "oberste Filmkritiker des Landes", die komplette Führungsriege der Filmindustrie ihres Amtes. Am Diktat staatlicher Vorgaben änderte dies wenig, außer, dass die Zensoren vielleicht noch misstrauischer das belichtete Zelluloid beäugten. Dies führte nicht selten zu Fehleinschätzungen und in der Folge zu rational nicht nachvollziehbaren Schnittauflagen oder Verboten. Spielfilme mit geschickt verschlüsselten Aussagen hatten gegen die massive Gesinnungsschnüffelei aus dem Kreml kaum eine Chance. Streifen wie "Deputat baltiki" (1937, von Alexander Sarchi und Josif Cheiviz), der pathosfrei einen Helden feiert, den eigentlich nichts für die Revolution prädestiniert, stellten in diesem Klima das Höchstmaß an tolerierter Liberalität dar.
Kritik an führenden Personen und Entwicklungen der Gegenwart fand nicht statt. Zwei Meisterwerke Sergej M. Eisensteins entstanden während der Herrschaft Stalins. Unreflektiert und pathetisch, aber ästhetisch überzeugend gestaltet Eisenstein in suggestiven Bildern den Mythos eines entschlossen gegen die (deutsche) Gefahr ankämpfenden Patrioten in "Alexander Newskij" (1938). Auf dem Höhepunkt der Moskauer Schauprozesse preist das vom Kampf gegen vordringende Ordensritter erzählende Opus die nationale Größe der Sowjetunion. Als weitaus weniger linientreu wurde sein Mammutwerk "Iwan der Schreckliche" ("Iwan grosnij", 1943 - 1945) empfunden, in dem er die Veränderung einer Führerfigur zum Tyrannen aufzeigt. Kein Wunder, dass dieser Streifen Stalins Beifall nicht mehr fand. Ihm, der sich "Vater der Völker" nennen ließ, mag zwar Iwans Streben nach staatlicher Einheit gefallen haben, die Schilderung von Grausamkeiten und Bespitzelungspolitik dagegen sicher nicht. Kein Wunder also, dass der zweite Teil bis 1958 in der UdSSR verboten war.
Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs produzierten die sowjetischen Studios etliche Streifen, die die Unmenschlichkeit des Naziregimes thematisierten. Grigori Roschals nach einem Roman von Lion Feuchtwanger entstandenes Drama "Die Familie Oppenheim" ("Semja Oppengejm", 1938) und Alexander Matscherets in einem KZ spielender Film "Die Moorsoldaten" ("Bolotnyje soldati", 1938) hatten die Aufgabe, die Öffentlichkeit auf die Möglichkeit einer deutschen Invasion hinzuweisen. Ab 1939 wurden die propagandistischen Anstrengungen durch agitatorische Kurzfilme verstärkt: In einer dieser Satiren warnt Napoleon Hitler vor einem Einmarsch in die Sowjetunion. Nach dem Angriff der deutschen Wehrmacht lag ein Schwerpunkt des Filmschaffens auf der Herstellung von Wochenschauen und Dokumentarfilmen, von denen einer ein bisher einmaliges Experiment darstellt: Im Juni 1942 filmten 240 Kameramänner im ganzen Land und über alle Frontabschnitte verteilt, was ihnen vor die Linse kam. So entstand eine einzigartige Momentaufnahme des Krieges, die unter den Titeln "Ein Tag in der neuen Welt" ("Djen nowowo nuria") und "Ein Tag des Krieges" ("Djen woini") gezeigt wurde.
Nach 1945 entwickelte sich auch im Film ein regelrechter Kult um die Person des Diktators, der vom Ex-Bildhauer Michail Tschiaureli mit immer neuen Huldigungswerken versorgt wurde. Mit "Der Schwur" ("Pitsi", 1946) und dem zweiteiligen Spielfilm "Der Fall von Berlin" ("Padenije Berlina", 1949) machte Tschiaureli dort weiter, wo er bereits 1938 mit "Die große Morgenröte" ("Diadi gantiadi") ehrfurchtsvoll begonnen hatte. Ziel dieser Filme war die - manchmal fast religiös anmutende - Verklärung des Siegers im "großen vaterländischen Krieg" zum genialen Staatsmann, der einer kriegsmüden Welt seine Friedensbotschaft überbringt. Gespielt wurde Stalin in all diesen Filmen von Michail Gelowani, der in dieser - seiner Lebensrolle - zehn Mal auf der Leinwand zu sehen war.
Während des Kalten Krieges drehten die Machthaber im Kreml kräftig an der ideologischen Schraube. Mit dem Feindbild des aggressiven Westens kamen antiamerikanische Streifen in Mode. Der Verfall der Filmkultur endete prompt nach Stalins Tod (März 1953 ) - erst das daran anschließende Tauwetter ermöglichte es engagierten Regisseuren wie Michail Kalatosow, mit kraftvollen, auch im Westen beachteten Werken wie "Wenn die Kraniche ziehen" ("Letjat schurawli", 1957) die künstlerische Starre zu durchbrechen. Kritik an den Zielen der Revolution war aber auch weiterhin verpönt, wie das Schicksal von Alexander Askoldows "Die Kommissarin" ("Komissar", 1967) zeigt. Der Film schildert die Geschichte einer Genossin der Roten Armee, die, unterstützt von einer jüdischen Familie, im Bürgerkrieg ein Kind gebärt. Individuelles Schicksal kontra (als unheroische Aneinanderreihung von Grausamkeiten gezeigte) Umgestaltung der Gesellschaft - das war den Kremlwächtern eindeutig zu viel. Für 20 Jahre musste Askoldows bildgewaltige Allegorie im Archiv verschwinden, der Regisseur wurde zeitweilig mit einem Berufsverbot belegt. Mit Gorbatschow endlich kamen neue Freiheiten, die zunächst aber nur dürftige künstlerische Ausbeute brachten - für eine eigenständige, freie Filmkultur fehlte es vor allem an Kapital.
Wie setzten sich Künstler anderer Länder im Nachhinein mit dem Terrorregime Stalins auseinander? Bestechend pointiert wandeln John Halas und Joy Batchelor in "Aufstand der Tiere" ("Animal Farm", 1955) George Orwells antistalinistische Fabel, in der sich Tiere von ihren menschlichen Unterdrückern befreien, schon bald aber wieder, jetzt von Despoten aus den eigenen Reihen, geknechtet werden, in Zeichentrickfilmbilder um. Ebenso beklemmend, in seiner Wirkung sogar noch stärker ist der historische Tatsachen aufgreifende quasidokumentarische Spielfilm "Das Geständnis" ("La veu", 1969). Der auf politische Themen spezialisierte Constantin Costa-Gavras erzählt darin die Geschichte des stellvertretenden tschechischen Außenministers Artur London, den die moskautreuen Vasallen in Prag zu Beginn der 50er-Jahre der Spionage und des Verrats verdächtigen. Der von Yves Montand brillant gespielte London wird, wie einige Freunde auch, verhaftet, eingekerkert, mit Schlaf- und Essensentzug gefoltert und immer wieder peinigenden Verhören unterzogen. Nach Erinnerungen Londons entstand die virtuos geschnittene, oft mit subjektiver Kamera gefilmte Studie fortgesetzter Erpressungsversuche des Staates, eine Verschwörung, die es niemals gegeben hatte, zu gestehen.
Säuberungen und Straflager, Verhöre und Folter zielen stets auf die Zerstörung des Individuums. Diese Methodik ist auch zentrales Motiv der internationalen, mit Stars gespickten Großproduktion "Sunshine - Ein Hauch von Sonnenschein" (1999), mit dem sich der ungarische Regisseur István Szabó abermals seinem - in "Oberst Redl" (1985) so brillant durchgespielten - Lieblingsthema zuwendet. Wo muss die Anpassung enden, wo Widerstand beginnen? Über drei Generationen verfolgt seine Familiensaga die Versuche ungarischer Juden, sich unter faschistischen und kommunistischen Diktaturen in einer Abfolge von Drahtseilakten unter Wahrung ihrer (Rest-)Identitäten zu assimilieren.
Die wohlhabenden Sonnenscheins führen kurz vor der Wende zum 19. Jahrhundert ein ruhiges Leben in Budapest. Ignatz ist ein patriotischer Monarchist, sein Bruder ein regimekritischer Sozialist. Der Karriere wegen ändern beide ihren Nachnamen, um nicht sofort als Juden erkannt zu werden. Ignatz' Stammhalter Adam, 1936 Olympiasieger im Sportfechten, geht noch einen Schritt weiter und konvertiert zum katholischen Glauben. Adams Sohn Ivan überlebt als eines der wenigen Familienmitglieder nationalsozialistischen Terror und Konzentrationslager. Im Auftrag der kommunistischen Regierung spürt er Nazi-Kollaborateure auf, muss aber verbittert registrieren, dass auch im neuen System alter Antisemitismus neu erblüht.
Szabó wuchtet sein ambitioniertes Historien-Opus, quasi eine Art Bestandsaufnahme des Niedergangs des 20. Jahrhunderts, in drei Stunden in die Höhe - und verhebt sich. 30 Stunden hätte er gebraucht, um die Fülle der Themen adäquat zu erzählen. Szabó jedoch vereinfacht, bleibt dabei konfus und zuweilen plakativ. Die glatte Inszenierung samt banaler Metaphern offenbart ein naives Geschichtsbild, die Integration historischer Ereignisse in den Kontext der Fabel wirkt oft beliebig.
An den gewählten Beispielen zeigt sich, dass Außenstehende sich mit der Aufarbeitung der Geschichte oft leichter tun als Betroffene. Szabó selbst hat vielleicht nicht die Distanz von Costa-Gavras (und im vorliegenden Fall auch nicht das passende Konzept), um über die Story hinaus auch noch einige Hintergründe - und damit Einsichten - der Ursachen zu vermitteln. Dies gilt auch und besonders für den russischen Film der Nach-Perestojka-Zeit, der sich weit mehr mit Ost-West-Migrationsproblemen und der Rückbesinnung auf das Zarentum und dem "großen vaterländischen Krieg" beschäftigt als mit Entstehung und Auswirkung der Stalinära. Kein Wunder, denn in Putins Staat existiert kein einheitlicher gesellschaftlicher Konsens über den Stalinismus. Eine insgesamt problematische Entwicklung, wie der polnische Publizist Aleksander Smolar treffend feststellt: "Demokratie ohne Erinnerung kann es nicht geben."
Michael Meier arbeitet in Stein bei Nürnberg als freier Journalist für Tageszeitungen wie "Nürnberger Nachrichten" und Zeitschriften wie "G - Geschichte".