Globalisierung wird in Deutschland vorrangig als Gefahr für Arbeitsplätze und Wohlstand wahrgenommen. Es kommt darauf an, dass die neue Regierung auch Vorteile in dieser internationalen Konkurrenz herausstreicht. Die Koalitionsparteien müssen aber auch frühere Fehler einsehen und mit dem verbliebenen Wohlstand geschickt umgehen - das trifft die Mittelschicht.
So sehen Helden der Globalisierung aus: Der britische Premier Tony Blair teilt gern aus. Beim Herbstparteitag seiner Labourpartei warb er für seine Wirtschaftspolitik: "Unser Land setzt heute zunehmend die Standards. Unsere Sache ist nicht die ,Malaise' Frankreichs oder die ,Angst' Deutschlands." Mit passablem Wachstum im Rücken, relativ geringen Sozialausgaben und investitionsfreudigen Firmen verkauft Blair sein Land als globalisierungstauglich, die Nachbarn als träge Riesen.
Der französische Präsident Jacques Chirac dagegen setzt auf nationale Töne und den Glauben an einen starken Staat. Die Pariser Regierung verlangt etwa vom US-Konzern Hewlett-Packard Subventionen zurück, wenn Jobs verloren gehen. Sie überwacht Spritpreise und will Ölkonzernen notfalls eine Sondersteuer aufzwingen. Sie schreitet ein, um eine ausländische Übernahme von Danone zu verhindern, aber auch, um dem Pharmakonzern Sanofi bei einer feindlichen Übernahme des deutsch-französischen Konzerns Aventis zu helfen.
Der neue deutsche Wirtschaftsminister Michael Glos ist zuletzt weniger als Wirtschaftspolitiker aufgefallen. Es gibt aber Hinweise, dass der gelernte Müllermeister ähnlich wie sein CSU-Parteichef Edmund Stoiber oder der vorige SPD-Minister Wolfgang Clement verfährt - nach dem deutschen Prinzip, unentschlossen zwischen Blair und Chirac. Im Oktober dieses Jahres schrieb Glos einen Brief an den BMW-Vorstandschef, in dem er sich für 26 Arbeiter der fränkischen Firma Fehrer einsetzt, die ihren Job verlieren, wenn BMW Motorradsitze nicht mehr in Glos' Wahlkreis, sondern in der Türkei herstellen lässt. "Die Motorradsparte von BMW erwirtschaftet nach meiner Kenntnis kapitalmarktfähige Renditen", schrieb er. Dabei erwähnte er nicht, dass Fehrer selbst in Tschechien seit Jahren billiger produziert als in Franken.
Wenn Traditionsbetriebe wanken, ist die CSU in Bayern zur Stelle. Doch gegen den Strukturwandel blieben die Politiker erfolglos. Jedoch haben sich in Bayern auch etliche neue Industrien entwickelt. Die wurden mit 4,5 Milliarden gepäppelt; Euro aus der Münchener Staatskasse, die aus Privatisierungen vom Energiekonzern Bayernwerk bis zur Molkerei Weihenstephan stammen. Diese Option bietet der Bundesetat nicht mehr.
Geht es um Globalisierung, reagieren Politiker meist mit Lamento oder Lob: Entweder sie stemmen sich gegen "entfesselte Kräfte" und lassen sich von Arbeitnehmern dafür feiern. Oder sie vermitteln den Eindruck, dass sie ihr Land für die internationalen Akteure der Wirtschaft attraktiver gemacht haben als andere. In Deutschland tun Politiker beides. Das verwirrt. Aber auch deutsche Unternehmen verhalten sich zwiespältig. Einerseits ist Deutschland "Exportweltmeister", was Jobs schafft. Die Wirtschaft ist globalisierter als in anderen großen Industrieländern. Viele Unternehmen sind innovativ und fahren ganz gut mit der Steuerlast und anderen Standortbedingungen. Sie sagen das aber nicht laut, sie klagen lieber. Sonst wird es schwer, wenn sie Leute entlassen oder Löhne drücken. Also wirkt es für Laien meist, als sei Deutschland schutzlos von der Globalisierung bedroht.
Die neue Regierung in Berlin hat in dieser Stimmung eine schwierige Aufgabe: Sie muss mehr reformieren, schließlich gibt es mehr als fünf Millionen Arbeitslose, manche Industrien wandern ab, die Sozialsysteme sind nicht zukunftstauglich, die Konjunktur schwächelt. Dafür ist aber oft nicht die Globalisierung verantwortlich, sondern die Tasache, dass Reformen lange verschoben wurden. Nun haben Union und Sozialdemokraten aber durch die globale Konkurrenz weniger Spielraum: Die Staatsschuld muss gedrückt werden, Unternehmenssteuern dürfen nicht viel steigen und auch die alternde Bevölkerung verheißt keinen Wachstumsschub.
Die Globalisierung schafft zudem ein Paradox. Sie erhöht die Fliehkraft in der Gesellschaft. Ganze Branchen profitieren davon, im Ausland produzieren und verkaufen zu können. Gut qualifizierte Fachkräfte können leichter einen Job finden, sich fortbilden oder im Ausland arbeiten. Doch gering Qualifizierte haben seltener solche Chancen. Für kleine Firmen verschärft sich die Lage, wenn andere im Ausland billiger sind.
Was also kann eine schwarz-rote Regierung tun, um die Innovativen zu locken, die Leistungsbereiten zu halten und die Schwächeren mitzunehmen? Symbolische Politik reicht längst nicht, nötig sind viele Schritte und mühsame Reformen.
Zunächst muss sich Schwarz-Rot mit der Europäischen Union arrangieren. Sonderwege haben kaum eine Chance. Der EU-Binnenmarkt bedeutet, dass sich kein Land gegen Waren, Dienstleistungen oder Arbeitskräfte aus der Union abschotten darf. Das heißt, dass die Wirtschaft in Deutschland um so viel besser sein muss, wie sie teurer ist.
Auf einer solchen Analyse baut Norbert Walter, Chefökonom der Deutschen Bank, auf. Er sagt, die Regierung habe kaum noch Möglichkeiten für populäre Politik, sie müsse vielmehr mit langem Atem die Lage durchstehen. "Bei Steuern ist kein großer Spielraum," sagt er mit Blick auf die Unternehmen. Die könnten schnell abwandern, wenn Steuern steigen. Weniger Steuern verbietet der marode Etat. Bleibt eigentlich fast nur Spielraum durch eine höhere Einkommens- und Mehrwertsteuer - beide sind längst im Visier der Koalition. Arbeitnehmer und Verbraucher laufen nicht so schnell weg wie Unternehmer oder Kapitalanleger.
Am Arbeitsmarkt zwinge die Globalisierung gerade zu Einschnitten, sagt Walter. "Da haben die Deutschen ja gezeigt, dass sie nicht so mobil sind. Sonst wäre zum Beispiel der Bäcker längst in den USA." Damit Leute mit einfacher Ausbildung eine Chance hätten, müssten eben die Lohnnebenkosten sinken - also die Kosten für Krankenversicherung, Rente und Arbeitslosenkasse. Das heißt länger arbeiten und Leistungen kürzen. Gerecht wäre auch, den Wohlfahrtsstaat schrittweise stärker aus Steuern zu finanzieren und dafür die Lohnnebenkosten zu senken.
Eine radikalere Antwort auf solche Zwänge wäre das Bürgergeld. Die Idee zielt darauf ab, den Zusammenhang zwischen Arbeit und Einkommen zu lösen. Ein Bürgergeld könnte mehr als 100 Sozialleistungen, vom Kindergeld bis zur Arbeitslosenunterstützung, bürokratiesparend ersetzen. Ökonomen argumentieren, solch ein staatliches Grundeinkommen sei die Antwort darauf, dass es in Ländern wie Deutschland wohl auch künftig relativ viele Arbeitslose gibt. Durch die Globalisierung gingen weiter Jobs verloren - gerade jene für wenig Qualifizierte und solche mit geringem Lohn. So will etwa Thomas Straubhaar, Präsident des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs (HWWA), einen "sozialen Fußboden" einziehen für alle, die keine Arbeit finden oder mit Arbeit nicht das Existenzminimum verdienen. Das Bürgergeld diene dazu, "dass der Gutverdienende und Kapitalist in Ruhe seine Arbeit machen kann", sagt er.
Andere wie der US-Autor Jeremy Rifkin oder der Soziologe Ulrich Beck wollen ein Sozialeinkommen, mit dem der Staat freiwillige, gemeinnützige Arbeit honoriert. So soll aus der Not der Globalisierung eine Tugend entstehen. Wenn in einer Gesellschaft die traditionellen Arbeitsplätze, nicht aber die Aufgaben knapp werden, könnte neben der normalen Erwerbsarbeit ein gemeinnütziger Sektor etabliert werden.
Solche Ideen, die teilweise von FDP und Grünen propagiert werden, schaffen aber ganz eigene Probleme. Deshalb wird eine schwarz-rote Koalition so weit nicht gehen: Setzt man das Grundeinkommen so niedrig an, dass es nur die nackte Existenz sichert und so etwas wie Hartz IV für alle wäre, werden die meisten an ihrem Job festhalten. Somit bliebe ein Bürgergeld wohl finanzierbar. Dann wäre aber die Entkopplung von Arbeit und Einkommen nicht gelungen, die wachsende Zahl sozialer Aufgaben auch nicht attraktiver gemacht. Relative Armut wäre nicht beseitigt und die Lage vieler Arbeitsloser nicht besser.
Das Gedankenexperiment Bürgergeld zeigt aber eines: Eine der wichtigsten Aufgaben für die Regierung ist, neu zu definieren, was sozial ist. Sparen tut weh und braucht gute Argumente vor den Wählern. Wer braucht wirklich Unterstützung? Wie lassen sich Chancen schaffen? Wenn sich die Deutschen vom Mythos verabschiedeten, dass ihr System bisher sozial war, wäre schon viel gewonnen. Dabei würde aber die Mittelschicht schlechter abschneiden als bisher. In Deutschland wird sie noch immer durch Subventionen wie Pendlerpauschale oder Transfers wie Kindergeld gestützt.
Nötig wäre jedoch vor allem, Langzeitarbeitslose gezielt in Arbeit zu bringen oder Kinder aus sozial schwachen Familien zu fördern. Bislang hat der Sozialstaat die schrumpfende Zahl Arbeitnehmer im Normalarbeitsverhältnis und klassische Familien im Visier. Heraus fällt die wachsende Zahl Selbstständiger, Teilzeitjobber oder Patchwork-Familien.
Mit einem ehrlicheren Verständnis, was sozial ist, könnte Geld gezielter ausgegeben werden. Es könnte sogar Geld aus klassischen Sozialleistungen umgeleitet werden, um künftig Innovationen zu befördern: So ist intelligente Bildungspolitik nicht nur die beste Sozialpolitik, sondern auch Voraussetzung für neue Ideen und Fortschritt.
Sozialstaat in Zeiten der Globalisierung heißt, der Mittelschicht Wohltaten zu entziehen, weil andere das Geld dringender brauchen, oder so für die Gesellschaft mehr zu erwarten ist. Es geht darum, Rentner zu überzeugen, dass Investitionen in Bildung entscheidend sind. Großeltern leuchtet das bei ihren Enkeln mühelos ein. Es geht darum zu vermitteln, dass der Staat sich stärker in der Bildung der Jüngsten engagieren muss und dass ein Studium, das vor allem das spätere Einkommen Einzelner erhöht, zur Not etwas kos-tet. Es geht darum, Leistungen für Familien dort einzusetzen, wo sie gebraucht werden: bei Leuten mit geringem Einkommen.
Es geht auch darum einzugestehen, dass der Vollzeitjob mit unbefristetem Arbeitsvertrag seltener wird. Wenn der Kündigungsschutz lo-ckerer wird, haben sowohl Jobbesitzer und Arbeitslose größere Chancen, eine neue Stelle zu finden. Es geht darum zu vermitteln, dass es künftig in menschenleeren Gebieten Ostdeutschlands weniger Schulen oder Kliniken gibt, dass es im menschenleeren Skandinavien aber bereits gute Ideen für eine neue Infrastruktur gibt.
Wenn hier umgesteuert wird, gehen zwar immer noch Jobs in Deutschland verloren. Dieser Strukturwandel wird sich nicht aufhalten lassen, wenn andere Länder günstiger produzieren. Deutsche Politiker kämen aber weg vom populistischen Kampf um Branchen, die sich nicht halten können. Mit all diesen mühsamen Schritten käme Deutschland dem Ziel näher, neue Jobs zu schaffen. Die skandinavischen Länder haben es vorgemacht: Finnland, Schweden, Dänemark und Norwegen haben nicht nur den Sozialstaat modernisiert, ihr Bildungssystem reformiert, sie schneiden auch in Beurteilungen wie dem Global Competitiveness Report gut ab und locken trotz ihrer Randlage viele Firmen an.
Wenig taugt dabei, was die EU-Kommission zuletzt vorschlug. Kommissionspräsident José Manuel Barroso will einen Globalisierungsfonds - eine Art Stoßdämpfer, wenn Branchen und Regionen heftig vom Strukturwandel getroffen werden. Arbeitnehmer, die ihren Job verlieren, sollen zum Beispiel so umgeschult werden. Den Fonds mit vielleicht 3,5 Milliarden Euro sollen die EU-Nettozahler speisen, also vor allem Deutsche, Schweden und Holländer. Dort formierten sich die Gegner.
Braucht Solidarität schon auf nationaler Ebene gute Argumente, ist sie europaweit noch schwerer zu organisieren. Die Steuerzahler Deutschlands oder Finnlands müssten sich im "Globalisierungsnotfall" solidarisch fühlen mit dem spanischen oder französischen Arbeiter, dessen Werk geschlossen wird. Und "gewöhnliche" Arbeitslose müssten dann jenen den Vortritt lassen, die als Globalisierungsopfer durchgehen und extra Förderung bekommen. Ein Unsinn.
Cordula Tutt ist Korrespondentin der "Financial Times Deutschland"
in Berlin.