Das ist der neue Ton: bestimmt und bedingungslos dem Fortschritt zugewandt. Nichts erscheint dem modernen Indien zu hoch, zu schwierig oder zu groß. Die Weltspitze ist die gültige Markierung, ob in der Weltraumforschung oder der Biochemie, in der Informationstechnologie oder der Rüstung, in der Filmindustrie oder der Literatur. Ähnlich wie China begreift sich Indien als ehrwürdige Zivilisation, die im Mittelfeld nichts zu suchen hat und ihren natürlichen Platz ganz oben sieht.
Begierig nimmt die Öffentlichkeit auf, was dem Selbstverständnis schmeichelt. Das offizielle Indien bezeichnet sich als "fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt" - und verschweigt dabei gerne, dass dies nur auf der umstrittenen Berechnungsgrundlage der Kaufkraftparität zutrifft.
Es hat lange gedauert bis Indien wieder als bedeutende Nation wahrgenommen wurde. Bei aller Beschwörung einer großen Vergangenheit war auch den Indern bewusst, dass die letzten 1.500 Jahre nicht nur erhabene Momente bereithielten. Die Phase, in der Indien vorbildhaft ausstrahlte und der Menschheit Kulturtechniken und Religionen schenkte, endete im Grunde mit dem Verfall des Guptareiches im 5. Jahrhundert. Das erste Großreich, das nach der Gupta-Dynastie auf indischem Boden wiedererstand, war das der muslimischen Moguln. Abgelöst wurde es im 19. Jahrhundert vom Britischen Imperium. 500 lange Jahre wurden die Inder in ihrem eigenen Land bevormundet. Die meisten Touristen sind überrascht, wie wenig "typisch Indisches" auf den gängigen Reiserouten zu sehen ist. Der Großteil des baugeschichtlichen Erbes, das heute geschützt und gepflegt wird, trägt die Handschrift der Fremdherrscher. Die einzige Sprache, die von allen gebildeten Indern gleichermaßen gesprochen wird, ist nicht die indische, sondern Englisch.
Das historische Wechselbad von Prägekraft und Fremdbestimmtheit, Stolz und Verletzung beeinflusst die subkontinentale Seele bis heute. In kaum einem anderen Land durchdringen sich Minderwertigkeitsgefühle und Protzertum, Selbstmitleid und Arroganz in solcher Weise. Sichtbar wird dies in einem beinahe neurotischen Umgang mit den Kategorien von Realität und Anspruch. Der Hang zur Autosuggestion erfasst viele Bereiche des öffentlichen Lebens. Der oft selbstgefällige Stolz auf die "größte Demokratie der Welt" vernebelt bisweilen den Blick auf ihre beträchtlichen Defizite. Korruption, Gewalt und eine Kultur des Dynastischen berauben das politische System Indiens vieler natürlicher Vorteile, die es gegenüber autoritär regierten Nachbarstaaten ausspielen könnte.
Offiziell hat sich Indien als Entwicklungsland verabschiedet; nur fünf "Geber" sind noch zugelassen. Zieht man in Betracht, dass Indien seit einiger Zeit selber Spendierhosen anzieht und sich als Gönner in ärmeren Ländern profiliert, müsste es prächtig um die indische Sozialstatistik stehen. Doch die Lage spottet noch immer jeder Beschreibung. Nur etwas mehr als die Hälfte der Inder kann lesen und schreiben. Jedes vierte Kind geht nicht zur Schule. Die Lebenserwartung zählt mit 64 Jahren zu den niedrigsten der Welt. Weite Teile der ländlichen Bevölkerung sind von ärztlicher Versorgung, Frischwasser, Elektrizität und Kommunikation abgeschnitten. Wo sich die Metropolen in der östlichen Nachbarschaft städtebaulich neu entwarfen, bemühen sich indische Städte, endlich "kuhfrei" zu werden - was nichts daran ändert, dass in Bombay ein pinkelnder Elefant noch immer einen Stau im Zentrum auslösen kann.
Indien-Apologeten wenden ein, der Aufstieg vollziehe sich hinter den Elendsfassaden, gewissermaßen unsichtbar. Wo China seinen Erfolg nach außen dokumentiere und Besucher mit gläsernen Wolkenkratzern und futuristischen Straßensystemen blende, stärke Indien sich von innen. Tatsächlich ist es vor allem die Dienstleistungsbranche, die das indische Wachstum generiert. Während die chinesische Volkswirtschaft von der Industrie dominiert wird, verdienen die Inder ihr neues Geld in Callcenter und Banken.
Spötter machen indes darauf aufmerksam, dass selbst Indiens Ruf als Dienstleistungsgesellschaft und "Software-Nation" ein paar Nummern zu hoch gegriffen sei. Der Umsatz der gesamten indischen IT-Branche liegt zur Zeit bei etwas mehr als zehn Milliarden Euro im Jahr - eine Summe, die allein der amerikanische Software-Konzern Microsoft jeden vierten Monat umsetzt. Sie weisen darauf hin, dass China siebenmal so viele Internetanschlüsse und sechsmal so viele Telefonbenutzer hat. Sie rechnen vor, dass die Volksrepublik zehnmal so viel Auslandskapital anzieht, zehnmal höhere staatliche Investitionen tätigt, zehnmal so viel Stahl verbraucht und - wer es besonders drastisch mag - über ein Autobahnnetz verfügt, das 60-mal größer ist als das indische.
Kaum etwas fasziniert die Inder so sehr wie das Kräftemessen mit dem Nachbarn, der noch 1980 in fast allen Disziplinen gleichauf lag. Zeitungsserien, Bücher und Symposien beschäftigen sich mit dem Ländervergleich. Lange Zeit begründeten die Inder ihr dramatisches Hinterherhinken mit den Nachteilen der Demokratie. Während in Indien jede öffentliche Investitionsentscheidung von allen Interessengruppen diskutiert wird, könne eine Diktatur Investoren mit klaren und verbindlichen Zusagen anlocken. Diese Hypothek hat sich inzwischen in ein Guthaben verwandelt. Nicht nur Inder, auch ausländische (oft von China enttäuschte) Geschäftsleute betonen heute die Vorteile der eingeübten, vergleichsweise krisensicheren Demokratie. Zwar geht alles etwas langsamer und beschwerlicher, aber die Gefahr eines plötzlichen Kollaps scheint in Indien gebannt. In den großen Städten herrscht ein intellektuelles Klima, das man in den meisten Metropolen des östlichen Asiens vergebens sucht.
Diese Mischung aus akademischem Milieu, billiger Arbeitnehmerschaft und Englisch als Verkehrssprache hat Indien als Standort für Investitionen und Auslagerungen attraktiv gemacht. Keine Branche wächst dabei so rasant wie die "Outsourcing-Industrie". Es gibt kaum noch etwas, das Ausländer nicht auch in Indien herstellen, entwickeln oder bearbeiten können. Von der Handarbeit bis zur hochcomputerisierten Massenproduktion, von der Kundenbetreuung bis zur Buchhaltung und zur Qualitätsprüfung - die Inder können es meistens genauso gut und verlangen wesentlich weniger Geld dafür.
Selbst auf so sensiblen Feldern wie der Gesundheitsversorgung bieten die Inder weltweit ihre Dienste an. Jahr für Jahr werden allein in den Krankenhäusern der Apollo-Gruppe 30.000 Patienten aus dem Ausland behandelt. Vor allem Briten fliehen vor ihrem maroden Gesundheitssystem und lassen sich von meist in Amerika ausgebildeten Ärzten in Delhi oder Bombay Bypässe legen und künstliche Hüftgelenke einsetzen.
Wenn China zur "verlängerten Werkbank der Welt" geworden ist, dann entwickelt sich Indien zum "verlängerten Kundentisch der Welt". Während die chinesische Öffnung aus einer inneren Logik heraus betrieben wurde, bedurfte die indische eines äußeren Anstoßes. Der Fall der Mauer und der folgende Zusammenbruch der Sowjetunion veränderten das Koordinatensystem auf dem Subkontinent. Denn bis dahin war die Sowjetunion unter den mächtigen Staaten der Erde Indiens bester Freund. Mit seinem Kalten Krieg gegen den kapitalistischen Westen schien der sowjetische Diktator Stalin schließlich auf die "richtige Seite", die der ausgebeuteten Entwicklungsländer, gewechselt zu sein: "Auch wenn Indien offiziell nie das Argument übernahm, dass die Sowjetunion der natürliche Verbündete der "Dritten Welt" in ihrem Kampf gegen den Westen gewesen ist, war dies eine Sichtweise, die vom größten Teil der indischen Intelligenzia geteilt wurde", bilanziert der indische Publizist Raja Mohan.
Ein Teil dieses Erbes lebt fort. Bis heute schotten sich bestimmte Produktionszweige vom internationalen Wettbewerb ab, Arbeitnehmerrechte werden in Indien - zumindest in den klassischen Großindustrien - höher gehalten als in der Nachbarschaft, die Regierung in Delhi verabschiedet noch immer "Fünfjahrespläne". Auch kulturell hat die Sowjetunion in Indien überlebt. Das Klima der Muffeligkeit ist in den Behörden tief verankert. Auf den Obst- und Gemüsemärkten werden die Waren mit einer Lieblosigkeit feilgeboten, die nur einer langen Erfahrung mit dem kollektivistischen Wirtschaften entspringen kann.
Heute blicken die Inder nach Amerika. Die politischen Folgen der Terroranschläge vom 11. September 2001 erwärmten den bilateralen Frühling. Delhi mit seinen intimen Kenntnissen der islamischen Nachbarschaft wurde zu einem Verbündeten in Bushs "Anti-Terror-Krieg". Auch als Handelspartner haben die USA (knapp vor China) den ersten Platz eingenommen.
Gleichwohl widersetzte sich Indien mit Rücksicht auf seine Interessen im Mittleren Osten dem Drängen Washingtons, Truppen in den Irak zu schicken. Das Wirtschaftswachstum von durchschnittlich sechs Prozent hat Indiens Bedarf an Energie stark ansteigen lassen. Seit Beginn der 90er-Jahre versucht das Land, seine Handelsbeziehungen mit den Ölstaaten am Golf neu zu fundieren.
Sorgenfrei verläuft auch das Näherrücken an die Kernstaaten der Asean. In Singapur, Jakarta und Bangkok ist erkannt worden, dass ein starkes Indien eine chinesische Dominanz in Asien verhindern helfen kann, auch wenn Indien als Konkurrent gefürchtet wird.
In politischen Kreisen wurde unlängst ein Essay des früheren britischen Vizekönigs Lord Curzon aus dem Jahr 1909 wiederentdeckt, der die Bestimmung Indiens in einem fast historischen Licht erscheinen lässt. Unter dem Titel "Indiens Platz im Imperium" würdigte der frühere Herrscher die "kostbaren Vorteile" des Subkontinents: "Seine zentrale Lage, seine großartigen Ressourcen, seine wimmelnde Vielzahl von Menschen, seine Reserve militärischer Stärke." Curzons Schlussfolgerung erinnert an die Rhetorik der heute in Indien Regierenden: "Es ist offensichtlich, dass Meister Indien unter modernen Bedingungen die größte Macht auf dem asiatischen Kontinent werden muss - und deshalb, sei angefügt, in der Welt."
Jochen Buchsteiner ist Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen
Zeitung" und lebt in Delhi. Soeben ist von ihm im Rowohlt Verlag
das Buch "Die Stunde der Asiaten. Wie Europa verdrängt wird"
erschienen.