Chinas Lage ist eine Frage des Standpunkts, findet Frau Guo und zeigt auf die Hügel rund um die Große Mauer bei Mutianyu, circa 80 Kilometer nordöstlich von Peking. "Wenn ich morgens hier hochsteige, muss ich abends wieder runtergehen", sagt die 45-Jährige, "ohne Berg, kein Tal, so ist es auch mit meinem Land". So trägt sie ihre selbstgestrickten Wollpantoffeln und einen Behälter für das staatliche Toilettenhäuschen jeden Tag die rund 110 Meter Höhenmeter auf und ab. Halb Privatunternehmerin und halb Staatsangestellte sei sie, lacht Frau Guo, nur mit beiden Einkünften kann sie gut leben und ihrer Tochter das Studium in Peking finanzieren. Aus ihrem Dorf sei sie noch nie weg gewesen, doch sie kann ein paar Brocken Englisch und weiß, dass die verschiedenen Bilder auf den Euro-Münzen kein Zeichen für Fälschungen sind. Denn Ausländer kommen oft hierher und bleiben an ihrem Stand stehen.
Chinas Vergangenheit ist so atemberaubend wie seine Zukunftsmöglichkeiten. Eine Mauer zum Schutz gegen ausländische Barbaren braucht die Volksrepublik heute nicht mehr, sie profitiert vom Welthandel. Die Konferenz für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) prognostiziert in ihrer ersten, jüngst veröffentlichten China-Studie, dass Peking im Olympiajahr 2008 Deutschland als Exportweltmeister ablösen wird. Knapp über die Hälfte des chinesischen Exportwachstums 2004 produzierten ausländische Firmen, laut der Boston Consulting Group sorgt Chinas Wachstum für eine Abnahme von rund 1,4 Millionen Arbeitnehmern in Deutschland bis 2015.
Szenarien eines (energie)hungrigen Drachens, der die Welt auffrisst: Der chinesische Ölverbrauch wird jährlich um rund zehn Prozent wachsen, im Jahr 2025 könnte China die USA als größten Emmitenten von Treibhausgasen überholen und 2031 mit 1,1 Milliarden sogar die Zahl der Autos in den Vereinigten Staaten übertreffen. Sollte die Volksrepublik westlichen Entwicklungstrends folgen, droht der globale Kollaps.
Jenseits westlicher Belehrungsmodelle haben chinesische Analysten längst selbst die Risiken des Modells China erkannt. Der Vizechef des staatlichen Büros für Umweltschutz, Pan Yue, zeichnet ein brutales Bild: "Ein Drittel der chinesischen Städte leidet unter starker Luftverschmutzung, und ein Drittel der ländlichen Flüsse ist stark verschmutzt", so Pan in einem Interview mit der "Zeit". Der Primat der rasanten Wirtschaftsentwicklung mit forcierten Industrieprojekten, Verschmutzungen und Verwüstungen bedroht auch Chinas "Nahrungssicherheit". 22 Prozent der Weltbevölkerung versorgt die Volksrepublik mit neun Prozent der weltweit landwirtschaftlich nutzbaren Fläche. Nahrungsimporte sind für die politische Führung brisanter als die steigenden Ölimporte, denn das macht ihre Legitimationsbasis als Wohlstandspatriarch brüchig.
Vor einer "permanenten Verschlechterung der gesamten Lage Chinas" warnt der chinesische Wirtschaftsprofessor Hu Angang und verweist auf wachsende Ungleichheit, welche das Land in "Mosaiksteine" zerteilt. Ein Fünftel der Chinesen, so viel leben in den prosperierenden Küstenprovinzen, besitzen 80 Prozent der Bankeinlagen. Die ländlichen Bewohner, rund zwei Drittel der Bevölkerung, verdienen mit knapp unter 300 Euro im Jahr dreimal so wenig wie die Städter. "Mein Sohn kennt das Leben der Bauern gar nicht, er ist nie durch Schlamm gelaufen oder hatte kein Wasser", sagt Privatunternehmer Wu aus Suzhou, eine Stadt rund eine Stunde westlich von Shanghai. Seine Eltern haben noch eine kleine Scholle mit Getreide und Früchten. Aber auch er fühle sich heute oft mehr verbunden mit seinen europäischen Geschäftspartnern rund 8.000 Kilometer entfernt. Ihnen verkauft Herr Wu Verkehrssicherheitstechnik, die hier noch niemanden interessiert.
Dabei steht das Land kurz vor der "Alarmstufe Rot", so berichtete Ende September die "Parteinahe Volkszeitung". Der Gini-Koeffizient, welcher die Einkommens-ungleichheit misst, steht bei kritischen 0,45. Deshalb propagiert Staats- und Parteichef Hu Jintao den "Aufbau einer harmonischen sozialistischen Gesellschaft". Was der Markt nicht schafft, kann nur die Partei gerade rücken. An notwendige strukturelle Reformen traut sich Peking (noch) nicht ran, denn die berühren das politische System. Beispiel: Politikdurchsetzung auf lokaler Ebene, dort wo sich Chinas Zukunft entscheiden wird. Trotz neuer Richtlinien aus Peking werden sich örtliche Kader durch den Wegfall von ländlichen Steuereinnahmen ohne neuen Finanzausgleich, ohne unabhängige Bauernverbände und Kontrollinstanzen auch weiterhin für mehr Industrieprojekte und illegale Gebühren und damit gegen Umweltschutz und ländliche Interessen entscheiden. Nur unabhängige Gerichte und Medien können die Korruption, aus Sicht der Partei ihr "Krebsgeschwür", eindämmen. Der Präsident des Obersten Gerichtshofs schrieb deshalb jüngst in einem Aufsatz vorsichtig über die "langfristige Wichtigkeit von Parteiaktivitäten unter und nicht über den Gesetzen".
Nicht nur mit der Verfassungsautorität, auch mit der Macht des Marktes ringt Peking bei allen Handelsgewinnen noch immer. Zwar will man das marode Bankensystem durch ausländische Investoren und Börsengänge in Übersee aufpäppeln, andererseits ernennt die Kommunistische Partei weiterhin das Führungsmanagement und streckt auch vor nationalen Übernahmen und Fusionen noch zurück. Die Angst vor einer unabhängigen und selbstbewussten Bildungselite widerspricht den selbst formulierten Erfordernissen einer innovativen, zukunftsfähigen Wissensgesellschaft. Doch die eigene Bevölkerung ist wissbegierig und lernbereit. Wie Busfahrer Zhu, der nur die Grundschule besucht hat und sich nun selbst in Politik und Wirtschaft unterrichtet. "China hat in den letzten Jahren vieles vom Westen gelernt, nun betreten wir selbst die Welt", sagt der 56-Jährige und zeigt ein Foto seiner Tochter, die in den USA studiert hat. Über 100.000 Studenten folgten 2003 der Regierungsdevise "Rausgehen" (zouchuqu). Peking selbst bietet mit im amerikanischen Ölgeschäft (Unocal Corporation) und kauft sich im Rahmen seiner Auslandsinvestitionen (1991 nur drei, 2002 schon 35 Milliarden US-Dollar) in Firmen ein (IBM, Rover, auch Schneider/Dual und Fairchild Dornier). "China soll mitreden dürfen, und zwar auf gleicher Augenhöhe", findet Unternehmer Wu und spricht von dem zwiespältigen Verhältnis zum Ausland.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat Chinas erst Kriegsniederlagen, dann maoistische Katastrophen durchlitten. "Wir mussten unsere eigenen Fähigkeiten und Prinzipien immer wieder neu finden", sagt der 45-jährige Geschäftsmann. Bei der eigenen Standortbestimmung tendieren deshalb manche Chinesen zu einem aggressiven Nationalismus, der sich bevorzugt gegen den Erbfeind Japan entlädt. Alte Kriegswunden und neue Ressourcenkonflikte sind die Anlässe. "Aber China will die Probleme friedlich und gemeinsam lösen, meint Wu. Viele Umbrüche habe der Westen früher oder langsamer erlebt, andere Herausforderungen, wie der Umbau sozialer Sicherungssysteme, Energiesicherheit und die Suche nach neuen Werten verbinden heute doch beide. Begleitet die westliche Welt Chinas Entwicklung verständnis- und respektvoll, so kann sie davon profitieren. Dazu muss sie bereit sein - ähnlich wie China vor erstmals hundert Jahren - fremde Konzepte nicht als Bedrohung, sondern als Prüfstein für die eigenen Fähigkeiten und Prinzipien zu sehen.
Kristin Kupfer arbeitet als Sinologin und Politologin an der
Ruhr-Universität in Bochum.