Primavera do Leste liegt in Brasiliens wildem Westen, etwa im Zentrum Südamerikas. In geometrisch angelegten Siedlungen inmitten einer staubigen Savanne leben hier 60.000 Menschen. Wo vor kurzem noch Rinder in der unberührten Steppe grasten, wird heute Soja und Baumwolle bis an den hitzeflimmernden Horizont angebaut. Es ist eine der am schnellsten wachsenden Pioniersiedlungen Brasiliens. Rechts und links der Hauptsraße reihen sich die riesigen Silos der internationalen Getreidehändler, die Lager der Agrochemiefirmen, Showrooms für Landgeräte sowie zwei Dutzend nagelneue Tankstellen für die endlose Kette an voll beladenen Trucks aneinander. Die sonst in Brasilien übliche Kriminalität gibt es nicht. Auch Slums fehlen. Jedes Kind geht in eine Schule. Arbeitslosigkeit? "Haben wir hier praktisch nicht", sagt der Bürgermeister stolz. "Jeder findet hier einen Job."
Reich ist Primavera: Der Toyotahändler hat eine Warteliste von vier Monaten für importierte Pick-Ups. Die Miete eines der schlichten Häuser kostet so viel wie in den teuren Stadtteilen São Paulos. Hier in der Provinz entstehen mehr Arbeitsplätze und wächst der Wohlstand schneller als in den Städten an der Küste. Deshalb will das brasilianische Statistikamt künftig für seine Erhebungen auch das Landesinnere berücksichtigen, weil die in den Städten ermittelten Wirtschaftsdaten ein verzerrtes Bild der Realität zeigen.
Primavera do Leste im brasilianischen Westen ist nur eine dieser neuen Pioniersiedlungen in Südamerika. In den letzten Jahren sind sie fast überall zwischen der Karibik und Feuerland entstanden. Sie finden sich in der Provinz, auf dem flachen Land, am Rande des Regenwaldes oder in entlegenen Andenregionen. Es sind die neuen Produktionsstandorte der Agroindustrie und des Bergbaus - heute die dynamischsten Branchen Südamerikas. Die Farmer, Trader und Minengesellschaften haben einen grundlegenden Strukturwandel in der Ökonomie des Kontinents ausgelöst. Dabei geht es um seine künftige Rolle in der Weltwirtschaft. Die Investmentbank Goldman Sachs hat die neue globale Arbeitsteilung in eine griffige Formel gebracht: Danach wird Indien die Denkfabrik, China die Werkhalle, Russland die Zapfsäule - und Brasilien das Rohstofflager der Weltwirtschaft werden. Diese so genannten BRIC-Länder sollen künftig die Weltwirtschaft am stärksten antreiben, bis sie in spätestens 40 Jahren wirtschaftlich bedeutender sind als die heutigen Industrieländer. Die neue Rolle Brasiliens als Zulieferer der Weltwirtschaft gilt teilweise auch für die anderen Staaten Südamerikas: Wie Brasilien haben sie einige Dekaden lang mit verschiedenen Rezepten aber letztendlich vergeblich versucht, die Industrienationen einzuholen. Nun kehren sie zu ihren Ursprüngen zurück, und in Südamerika wiederholt sich die Geschichte. Während der Kolonisierung pressten die Spanier Silber und Gold aus den Andenländern. Heute fördern in- und ausländische Konzerne immer noch Gold und Silber - aber auch bei den anderen Metallen und Erzen wie Zink, Zinn, Kupfer, Eisen und Mangan spielen Konzerne aus Südamerika und dort aktive Multis an der Spitze im Welthandel mit. Drei Jahrhunderte lieferten Brasiliens Plantagen Gummi, Tabak, Zucker und Kaffee nach Europa. Argentiniens Pampas versorgten Europas Bevölkerung in der Nachkriegszeit mit Weizen und Rindfleisch. Heute sind die Agrarkonzerne Brasiliens und Argentiniens, aber auch Unternehmen mit Investitionen in Bolivien, Chile und Uruguay, Weltmarktführer für zahlreiche weitere Produkte wie Soja, Rindfleisch, Orangensaftkonzentrat. Mit Baumwolle, Reis, Leder, Pflanzenölen, Hühner- und Schweinefleisch, Shrimps, Wein, ja selbst Zitronen oder Blumen sind südamerikanische Produzenten unter der Weltspitze der Agrarexporteure zu finden. Es sind moderne, hochkapitalisierte Betriebe, nicht mehr feudale Haziendas oder Plantagenbetriebe, die man in Europa mehr oder weniger romantisch verbrämt mit Südamerika assoziiert. In Primavera do Leste sind die Rohstoffhändler in den Büros der Agrarkonzerne online mit der Terminbörse in Chicago und den Wettersatelliten verbunden. Nirgendwo sonst weltweit wird so rentabel Soja angebaut wie hier. Eine Kommission des US-Senats, die in Brasilien nach Beweisen für Dumping suchte, stellte ernüchtert fest, dass brasilianisches Soja auch ohne Subventionen und trotz hoher Transportkosten auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig ist.
Der Rohstoffboom hat die meisten überrascht. Rohstoffkonzerne galten unter Investoren bis vor kurzem als langweilig. Denn seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts wuchs die Nachfrage nach Rohstoffen weniger schnell als für verarbeitete Güter oder Dienstleis-tungen. Außerdem waren die wichtigen Märkte im Norden für diese Produkte meist durch Zollschranken und Einfuhrbeschränkungen verschlossen. Die Preise für fast alle Commodities sanken über Jahrzehnte. Doch das hat sich jetzt geändert. Die Preise sind auf historische Hochs gestiegen. Viele Exporteure halten nun eine lang anhaltende Hausse für Rohstoffe für möglich. Der wichtigste Grund für den Stimmungswandel: China ist als neuer Akteur auf den Weltmarkt für Rohstoffe getreten. Für die meisten Staaten Südamerikas ist das Reich der Mitte innerhalb weniger Quartale von einem vernachlässigten Markt zum wichtigsten Exportziel geworden.
Die neue Nachfrage aus Fernost erwischte Südamerikas Produzenten zu einem günstigen Zeitpunkt: In den 90er- Jahren haben Brasilien und Argentinien ihre maroden Landwirtschaften, die von staatlichen Subventionen abhingen und extensiv betrieben wurden, in hochmoderne Agroindustrien verwandelt. Auch die Minengesellschaften sind immer weniger staatlich gelenkt. Den Privatisierungen der letzten zehn Jahre folgten hohe Investitionen in der Bergbaubranche, welche deren Wettbewerbsfähigkeit erhöhte.
Der Exportboom wirkt sich positiv auf die latent labilen Volkswirtschaften des Kontinents aus. Erstmals seit Dekaden sind die Leistungsbilanzen Südamerikas fast durchgehend positiv. Alle Ökonomien wachsen stärker als noch vor kurzem erwartet.
Dennoch kommt das Wachstum noch kaum bei der Bevölkerung an - auch dabei könnte sich die Geschichte für Südamerika tragisch wiederholen: Denn die Conquistadores beuteten Südamerika mit Hilfe indianischer und afrikanischer Sklaven aus, ohne die Region langfristig zu entwickeln. Die Weichen für die hohe Einkommenskonzentration der Region wurden damals gelegt: Sagenhafter Reichtum einiger Weniger existiert seitdem in Südamerika neben der Armut der Bevölkerungsmehrheit - das gilt mehr oder weniger für alle Staaten des Kontinents. Noch ist der Rohstoffboom zu jung, um beurteilen zu können, ob diesmal der Reichtum besser verteilt wird, das Wachstum also nachhaltig ist. Die Anzeichen sind widersprüchlich: Rohstoffkonzerne schaffen kaum Arbeitsplätze, belasten die Umwelt und führen zur Verarmung der Bevölkerung, argumentieren die zahlreichen Kritiker des rohstofforientierten Exportmodells. Die politische Unruhen der letzten Monate in den Andenländern lassen sich mit der Furcht der Bevölkerung erklären, wieder mal zu kurz zu kommen: Die Demonstranten wollen weder Gas noch Öl ins Ausland exportieren, auch wenn die Regierungen dringend die Einnahmen bräuchten. Auch die Landlosenbewegung Movimento Sem Terra (MST) in Brasilien oder die arbeitslosen Piqueteros in Argentinien wollen eine gerechtere Verteilung der nationalen Ressourcen - und holzen aus Protest Eukalyptusplantagen ab oder besetzen Tankstellen.
Die Befürworter der rohstofforientierten Entwicklung dagegen verweisen auf die positiven Impulse durch die florierenden Exporte. Überall werden neue Häfen, Straßen und Schienenwege gebaut. Geräte- und Maschinenbauer folgen ihren Kunden, den Bergbau- und Landwirtschaftskonzernen. Chemiekonzerne investieren in Agro- und Bergbauabteilungen. Lebensmittelkonzerne bauen die Produktion aus, um näher an die Rohstoffquellen zu rücken.
Letztendlich ist das Abwägen zwischen den verschiedenen Perspektiven für Südamerika müßig, denn der Kontinent hat keine Wahl: Die neue, alte Rolle als Rohstofflieferant der Welt bedeutet für Südamerika eine Chance in der Globalisierung. In diesen Branchen können die Unternehmen ihre Standortvorteile ausspielen. Ob die Staaten diesen Rückenwind nutzen, um in Bildung, Gesundheit und Rechtssicherheit
zu investieren, also die Grundlage für anhaltendes Wachstum zu schaffen, das ist eine andere Frage. Bisher scheint nur Chile auf dem richtigen Weg zu sein und die hohen Kupferpreise zu nutzen, um seine Wirtschaft zu diversifizieren. Im restlichen Südamerika ist jetzt vor allem die Politik gefordert.
Alexander Busch ist Korrespondent für das "Handelsblatt" und
lebt in Sao Paulo.