Hätte man vor 30 Jahren Historiker gefragt, mit welchem allgemeinen Begriff sie die wirtschaftliche Entwicklung in den letzten beiden Jahrhunderten beschreiben würden, dann hätten vermutlich die meisten von ihnen das Wort "Industrialisierung" genannt. Heute dürfte bei vielen die Antwort eher "Globalisierung" lauten. Globalisierung ist nicht nur zu dem mittlerweile wohl wichtigsten Thema der internationalen Sozialwissenschaften geworden. Immer mehr wird auch die jüngere geschichtliche Entwicklung in dieser Perspektive gesehen. Dabei ist allerdings ein wichtiger Unterschied zu beachten: Industrialisierung ist viel griffiger, viel leichter in der Vergangenheit konkret zu beobachten als Globalisierung. Die Spuren früher Industrialisierung sind oft bis heute materiell überliefert, auch kann man sie recht genau datieren. Es gibt keinen Zweifel darüber, welches die wichtigen technischen Erfindungen waren, die am Beginn der "Industriellen Revolution" standen. Ebenso gut lässt sich genau angeben, von wann sie stammen, die ersten Fabriken in England und anderswo, die ersten Dampflokomotiven, das Aufstreben besonderer Industriestädte: All das kann man anschaulich beschreiben.
Bei der Globalisierung fehlt eine solche Anschaulichkeit. Sie ist ihren frühen Formen vor allem als Anknüpfung und Verdichtung von Handelsbeziehungen über große Entfernungen hinweg zu verstehen. Von solchen Beziehungen sind oft nur vereinzelte Überreste geblieben. Noch schwieriger sind kulturelle Beziehungen, etwa die Wanderung von Religionen, konkret dingfest zu machen. Eine genaue Chronologie solcher "Transferprozesse" ist oft sehr schwer aufzustellen. Nur deshalb, weil "Globalisierung" selbst kein "Ding" ist, das man vorfindet, ausgraben oder anschauen kann, sind Debatten um die Anfänge der Globalisierung überhaupt möglich. Den Beginn der Industrialisierung kann man ziemlich genau datieren und sogar den Ort angeben (England um 1770). Auf die Frage, wann die Globalisierung begann, unterscheiden sich die Antworten um mehrere Jahrhunderte.
Ganz grob unterschieden, bewegen sich die Lösungsvorschläge zwischen zwei Extremen. Einige Historiker sehen bereits im Mittelalter großräumige Verflechtungen, die sie als eine Art von Ur-Globalisierung bezeichnen möchten: Vor allem die Eroberungen der Mongolen im frühen 13. Jahrhundert schufen einen euro-asiatischen Kontinentalraum, in dem sich Waren und auch Ideen über große Distanzen schnell verbreiten konnten. Freilich war Amerika an diese Ströme noch nicht angeschlossen. Am entgegengesetzten Extrem steht die - viel weiter verbreitete - Ansicht, von Globalisierung könne man erst reden, seit die weltweite Verbreitung des Internet Kommunikation "in Echtzeit" ermöglicht und damit die Bewegung von Informationen und Finanztransaktionen beschleunigt habe. Ist die erste dieser beiden Positionen zu weit gefasst, so unterschätzt die zweite die historischen Voraussetzungen der jüngsten Globalisierungswelle.
Von Globalisierung sollte man erst von dem Moment an sprechen, als die Ozeane für den Verkehr erschlossen wurden. Dies geschah im 16. Jahrhundert mit der Gründung amerikanischer Kolonien zuerst durch Spanier und Portugiesen, im folgenden Jahrhundert auch durch Engländer, Franzosen und Niederländer. Im gleichen Zeitalter wurden erste regelmäßige Handelsbeziehungen über den Pazifik hinweg (von Mexiko bis China) geknüpft. Ebenfalls im 17. Jahrhundert verdichteten sich die Fernhandelsnetze im Indischen Ozean. Dazu trugen neben den europäischen "Ostindienkompanien", die zu den größten Handelsorganisationen der damaligen Welt zählten, auch arabische Seefahrer und Händler maßgeblich bei. Der Fernhandel mit kostbaren Gütern wie Edelmetallen, Gewürzen oder Porzellan wurde bald durch einen Handel mit Massenware ergänzt. Dazu gehörten aus damaliger europäischer Sicht auch afrikanische Sklaven. Etwa zwischen 1570 und 1870 wurden mindestens 11 Millionen Afrikaner durch europäische Sklavenhändler in die Neue Welt verschleppt. Die gesamte "Frühe Neuzeit" war durch einen Prozess der "archaischen" Globalisierung (C. A. Bayly) gekennzeichnet. "Archaisch" daran war, dass die Transportgeschwindigkeit sich während des gesamten Zeitalters kaum veränderte. Auch gab es nur wenige Gegenden, deren Schicksal ganz von Außenkontakten bestimmt wurde.
Eine neue Stufe der Globalisierung wurde erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts erreicht. Man könnte hier von moderner Globalisierung sprechen. Sie setzt die Anwendung industrieller Prinzipien auf Verkehr und Nachrichtenübermittlung voraus. Im 19. Jahrhundert machte die Dampfschifffahrt Überseereisen schneller, sicherer und billiger. Dies war eine wichtige Ursache für die Auswanderung von Millionen von Europäern nach Nord- und Südamerika sowie in das neu erschlossene Australien. Ein weltumspannendes Telegrafennetz ermöglichte es nach etwa 1880, innerhalb von Minuten zwischen den Kontinenten zu kommunizieren. Erst jetzt entstand eine Weltwirtschaft, wie wir sie heute noch kennen. Sie setzte relativ freie Märkte voraus, an deren Funktionieren auch viele Regierungen interessiert waren. Ein deutliches Zeichen für einen höheren Verdichtungsgrad war es, dass sich seit den 1880er-Jahren ökonomische Probleme zu Welt-Wirtschaftskrisen ausweiten konnten.
Die größte dieser Krisen begann 1929. Sie wäre ohne die vorausgegangene engmaschige Verflechtung der Weltwirtschaft in Handel wie Finanz nicht möglich gewesen. Auf der anderen Seite konnte diese eigentliche "Weltwirtschaftskrise" nur deshalb so verheerende Folgen haben, weil der Erste Weltkrieg die internationale Staatenwelt zerrüttet hatte. Es fehlten in den 1920er-Jahren Mechanismen der wirtschaftlichen Kooperation und politischen Konfliktregelung zwischen den führenden Mächten der Welt. Im Zweiten Weltkrieg, den sie anzettelten, verfolgten Deutschland und Japan eine Politik der brutalen Eroberung von Großräumen, die "autark" gemacht werden sollten. Das kann man als den Versuch sehen, die Uhr der Globalisierung zurückzudrehen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde mit politischen Mitteln ein freier Welthandel wieder hergestellt, dem sich allerdings die kommunistischen Staatshandelsländer nur sehr bedingt anschlossen. Neue technische Entwicklungen ließen die Kontinente näher zusammenrücken, etwa die rasante Ausbreitung der zivilen Luftfahrt und die Abhängigkeit der Volkswirtschaften Europas, Japans und der USA von arabischem Öl. Multinationale Konzerne erlangten nun eine viel größere Bedeutung und Macht als in der Vergangenheit.
Die neueste Phase der Globalisierung kann man als die postmoderne bezeichnen. "Postmodern" bedeutet, dass die großen Ordnungsmächte der Vergangenheit, etwa Staaten, Kirchen oder gesellschaftliche Klassen an Bindekraft verlieren. Die Initiativen von kleinen Gruppen und Einzelnen werden hingegen wichtiger. Das lässt sich auch auf internationaler Ebene beobachten. Nationale Wirtschaftssysteme sind weniger geschlossen denn je. Für viele Dienstleistungen spielt es schon keine Rolle mehr, in welchem Land sie verortet sind. Nach dem Ende der Sowjetunion und der Öffnung Chinas entzieht sich kaum eine Gegend der Welt solchen Zusammenhängen.
Jürgen Osterhammel ist Professor für Neuere und Neueste
Geschichte an der Universität Konstanz. Er ist Verfasser des
Buches "Die Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse,
Epochen".