Dafür hatte sich die Partei- und Fraktionsprominenz von Linkspartei und WASG zu Beginn des Parteitages auch richtig ins Zeug gelegt. Während Lothar Bisky noch nie als großes Redetalent aufgefallen war und in einer nüchternen Rede die Grundzüge künftiger Politik skizzierte, bekam man als Zuhörer bei der anschließenden Rede Gregor Gysis Angst. Derart emotional aufgewühlt redete der Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag auf die Zuhörer ein, dass man sich ernsthafte Sorgen um seine Pulsfrequenz machen musste. Aber er verfehlte seine Wirkung nicht: "Wir sind mit über acht Prozent in den Bundestag eingezogen. Nun zeigt doch mal, dass wir uns über diese Entwicklung auch freuen können!", rief er den Delegierten zu, deren Applaus bis dahin etwas müde gewirkt hatte. Spätestens jetzt waren alle hellwach. Die Stimmung stieg. Und damit auch die Voraussetzung, um die Mehrheit für das Kooperationsabkommen mit der WASG zu begeistern.
Das hatten die Spitzen der Linkspartei, Lothar Bisky und Bodo Ramelow, und der WASG, Klaus Ernst und Thomas Händel, am 6. Dezember in Berlin unterzeichnet. Es sieht vor, beide Parteien bis spätestens Juni 2007 zu vereinigen. "Das ist lang. Aber es ist auch richtig. Die Zeit, die wir brauchen, die brauchen wir auch", sagte Gysi und verwies auf die historische Chance, eine gesamtdeutsche linke politische Kraft in Deutschland zu etablieren. Noch deutlichere Beschwörungsformeln benutzte Oskar Lafontaine, neben Gysi ebenfalls Vorsitzender der Bundestagsfraktion: "Wir würden vor der Geschichte versagen, wenn wir das jetzt nicht machen."
Doch ein Verweis nur auf die Geschichte reicht für erfolgreiche Überzeugunsgarbeit nicht. Dessen war sich die Promimenz in Dresden durchaus bewusst. Bisky, Gysi, Lafontaine und Klaus Ernst bemühten deshalb zahlreiche Verweise auf die aktuelle Politik, um die Notwendigkeit, die Fraktionsgemeinschaft von Linkspartei und WASG im Bundestag in die feste Form einer gemeinsamen Partei zu gießen, zu begründen. In diesem Zusammenhang fiel kein Begriff so oft wie der des Neoliberalismus. Über die Arbeit der Großen Koalition sagte Gysi: "Es ist dieselbe neoliberale Richtung, die wir seit sieben Jahren erleben. Wer kann denn im Ernst glauben, dass das zu irgendeiner Art von Erfolg führt?" Und über Steuerleichterungen für Unternehmen: "Arbeit entsteht, wenn es mehr Arbeit gibt, nicht einfach, wenn es mehr Geld gibt. Arbeit ensteht, wenn wir endlich wieder mehr Kaufkraft haben." Scharf kritisierte Gysi deshalb die geplante Mehrwertsteuerhöhung ab 2007. "Ich begreife gar nicht, wie man auf solch eine Idee kommen kann. Ich bitte euch: Lest alle Argumente der SPD aus dem Sommer nach, die stimmen alle."
Solche Bemerkungen kamen an bei den Delegierten, auch bei den Gästen von der WASG. In ihrer Kritik am Sozialabbau sind sich beide Parteien zwar grundsätzlich einig. Aber es gebe auch Trennendes, hob Klaus Ernst hervor. Und meinte damit nicht nur "persönliche Eitelkeiten zwischen einzelnen Leuten", sondern "ernsthafte politische Meinungsunterschiede" über die Frage der Regierungsbeteiligungen. Auf dieses Hauptproblem, das die Vorbehalte der WASG gegen eine Fusion mit der Linkspartei begründet, gingen zuvor schon Gysi und Lafontaine ein, indem sie die Erfolge der Koalitionen auf Länderebene, an denen die Linkspartei beteiligt ist, hervorhoben. Auch Bisky hatte grundsätzlich solche Regierungsbeteiligungen - auch auf Bundesebene - verteidigt. Klaus Ernst appellierte vor allem an die Vernuft: "Das können wir nicht dadurch lösen, indem wir aufeinander eindreschen." Miteinander statt übereinander zu reden, forderte er deshalb von jenen, die vor allem in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin Bauchschmerzen mit einer Fusion haben. Für viele WASG-Mitglieder bedeutet die Regierungsbeteiligung der Linkspartei in beiden Bundesländern zugleich eine Beteiligung an dem "neoliberalen Kahlschlag".
Bis dahin bot der Parteitag wenige Überraschungen. Doch nachdem die Kooperationsvereinbarung gebilligt worden war, kam es am Abend des ersten Tages zum Eklat. Nicht, weil der frisch gewählte Bundesgeschaftsführer der Partei, Dietmar Bartsch, ein mit 64 Prozent eher mäßiges Ergebnis erzielt hatte. Der 47-Jährige, als Reformer bekannte Politiker ("Politik statt Ideologie"), übte das Amt bereits von 1997 bis 2002 aus und legte es als Konsequenz der Wahlschlappe in jenem Jahr nieder. Umstritten war und ist seitdem vielmehr die Wahl des neues Bundeschatzmeisters - eigentlich ein eher unscheinbares Parteiamt. Das Interesse steigt spätestens dann, wenn der Kandidat, wie geschehen, in seiner Bewerbunsgrede auf seine Tätigkeit für die Stasi hinweist. Der 47-jährige Steuerberater Bernhard Walther konnte oder wollte zugleich jedoch die Nachfragen von Delegierten nicht beantworten, was man sich darunter vorzustellen habe. Die Angabe "etwas im Sinne der DDR" gemacht zu haben, stellte viele von ihnen nicht zufrieden. Auch nicht der Hinweis, dass die Akte bereits vom Parteivorstand angefordert worden sei, aber noch niemand wisse, was darin steht. Bisky räumte hinterher ein, dass die Vorbereitung dieser Wahl nicht optimal verlaufen sei. Trotz Bedenken bestätigten die Delegierten Walther mit 68 Prozent, und wegen dieser Bedenken übt zunächst Parteichef Bisky das Amt des Schatzmeisters kommissarisch aus, bis die Fakten geklärt sind.
Der richtige Schreck fuhr allen Teilnehmern jedoch erst am Sonntag in die Glieder. Was auf der Tagesordnung trocken aussieht - Änderung des Statuts - entpuppte sich als Zerreißprobe dessen, was am Tag zuvor weitgehend harmonisch besprochen worden war: die Fusion mit der WASG. Ironischerweise widerlegte sich die Mehrheit der Delegierten mit ihrer Ablehnung der Doppelmitgliedschaft selber. Denn die Kooperationsvereinbarung, die sie noch am Vortag mit großer Mehrheit und nach einer wenig kontroversen Debatte gebilligt hatten, enthält diese Möglichkeit einer Doppelmitgliedschaft. Im zweiten Anlauf klappte es schließlich, und umso größer war nun die Zustimmung: 316 der ungefähr 350 Delegierten votierten dafür. Damit war die Gefahr des Scheiterns der Parteineugründung erstmal gebannt und alle mit einem blauen Auge davongekommen.