Das Parlament: Herr Maurer, wie erging es Ihnen als ehemaligem SPD-Mitglied bei der Schelte, die die Sozialdemokraten auf dem Parteitag in Dresden kassiert haben. Fühlten Sie sich in gewisser Hinsicht auch angesprochen? Sie sind ja erst im Juni dieses Jahres in die WASG eingetreten?
Ulrich Maurer: Nein. Die Kritik, die dort an der SPD-Politik geübt wurde, ist die gleiche, die ich selber geäußert habe und äußere und deretwegen ich auch die SPD verlassen habe. Insofern habe ich da keinerlei Gefühlsprobleme.
Das Parlament: Der neue SPD-Generalsekretär Hubertus Heil verkündete kürzlich, den Begriff des "demokratischen Sozialismus" im neuen Grundsatzprogramm der Partei verankern zu wollen. Warum ist dieser Begriff als politische Kategorie so beliebt?
Ulrich Maurer: Ich bin mir ziemlich sicher, dass die SPD diesen Begriff aufgegeben hätte, wenn es uns nicht geben würde. Denn sie ist schon lange nicht mehr in der Lage, ihn mit irgendeinem Inhalt zu füllen. Überhaupt herrscht, denke ich, bei der SPD ein großes inhaltliches Vakuum, das Schröder hinterlassen hat. Die SPD hat in ihren programmatischen Aussagen, gerade von Leuten wie Platzeck oder Heil, die gesamte Gerechtigkeitsfrage auf das Thema Chancengerechtigkeit reduziert. Insofern weiß ich nicht, was die mit dem Begriff des "demokratischen Sozialismus" anfangen wollen. Ich glaube, sie sagen das, weil sie Konkurrenz von einer linken demokratischen Partei haben.
Das Parlament: Auch im Streit zwischen der Linkspartei und der WASG spielt der Begriff eine wichtige Rolle. Der WASG wird nachgesagt, Probleme mit dem Leitbild des "demokratischen Sozialismus" zu haben. Ist dieser Begriff für Sie problematisch? Was bedeutet er für Sie?
Ulrich Maurer: Nein. Er ist ganz und gar nicht problematisch für mich. Ich komme aus der Sozialdemokratie und bin mit diesem Begriff groß geworden. Er beschreibt meine Identität. Und er ist die ganz große Herausforderung an jede linke Partei: die Idee von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zusammenzuführen. Und was dieser Begriff meint, ist, die Idee von Gleichheit mit dem demokratischen Anspruch zu verbinden.
Das Parlament: Klaus Ernst, der Vorsitzende der WASG, hat noch auf einen anderen kulturellen Unterschied zwischen der Linkspartei und der WASG hingewiesen, den des Umgangs mit der Vergangenheit. Ist es symptomatisch, dass in Dresden ausgerechnet Delegierte aus dem Westen genaueres über die IM-Tätigkeit des gewählten Schatzmeisters Bernhard Walther wissen wollten, während eine Ost-Delegierte in dieser Befragung "inquisitorische Züge" erkannte?
Ulrich Maurer: Die Auseinandersetzung verläuft da nicht entlang einer Ost-West-Grenze, sondern die Jüngeren auch im Osten, das gilt ganz stark zum Beispiel für den Berliner Landesverband, haben diese Kritik an dem Vorgehen in der Schatzmeisterfrage voll geteilt. Ich sehe da eher ein Generationenproblem. Auch den Parteibildungsprozess erlebe ich als viel differenzierter. Dieses Schema Ost-West oder Linkspartei-WASG ist völlig falsch. Das sieht man auch an den massiven Äußerungen aus dem Osten, die es im Nachgang zu diesem Ereignis gab.
Das Parlament: Die Doppelmitgliedschaft kam erst im zweiten Anlauf durch. Befürchten Sie eine ähnliche Zitterpartie, wenn die WASG-Basis im nächsten Jahr darüber neu zu entscheiden hat?
Ulrich Maurer: Nein, eigentlich nicht. Unsere Probleme liegen noch in Berlin und ein kleines Stück auch in Mecklenburg-Vorpommern. Aber ansonsten wird dieser Parteibildungsprozess innerhalb der WASG breit getragen.
Das Parlament: Sie haben lange Jahre Erfahrungen mit Regierungsbeteiligungen auf Landesebene in Baden-Württemberg gesammelt. Könnte eine solche Beteiligung auf Bundesebene, erst recht für einen so kleinen Koalitionspartner, wie es die Linkspartei sein könnte, tatsächlich die Chance auf einen Politikwechsel bieten, wie er von der Partei als Ziel verkündet wird?
Ulrich Maurer: Bei uns entscheidet sich die Frage, ob wir jemals so etwas machen werden, ausschließlich über Inhalte. Es ist genau umgekehrt: Erst der Politikwechsel der SPD schafft die Voraussetzung dafür, dass man eine solche Frage diskutieren könnte. Und diesen Politikwechsel sehe ich bei der SPD in absehbarer Zeit nicht.
Das Parlament: Haben Sie, ganz persönlich und unabhängig von ihrer Fraktionszugehörigkeit, den Diskussionsprozess mit ihren ehemaligen politischen Weggefährten von der SPD abgebrochen?
Ulrich Maurer: Nein, das setzt sich mit einzelnen Personen natürlich fort. Es gibt durchaus nicht wenige in der SPD, die eigentlich die Wahlentscheidung als Auftrag für eine andere Politik empfunden haben als das, was jetzt in der Großen Koalition gemacht wird. Und natürlich bin ich, oder sind wir, grundsätzlich an der Aufrechterhaltung dieses Diskussionszusammenhangs interessiert.
Das Parlament: Sie wollen als starke Oppositionsfraktion im Bundestag die Große Koalition politisch bekämpfen.Welche Rolle spielen die außerparlamentarischen Gruppen dabei?
Ulrich Maurer: Wir entwickeln sehr starke Bindungen zu den Gewerkschaften. Es war kein Zufall, dass der Vorsitzende von ver.di zum ersten Mal an einem Parteitag der Linkspartei teilgenommen hat. Das war ein deutliches Signal. Gerade wir sind, weil wir ja ideell mehr oder weniger allein stehen, besonders stark auf die Zusammenarbeit mit den außerparlamentarischen Bewegungen angewiesen. Der nächste Punkt, wo sich das manifestieren wird, ist der europaweite Protest gegen die Dienstleistungsrichtlinie des Herrn Bolkestein, die endgültig die große Zahl der Arbeitnehmer in Europa schutzlos machen würde. Und da wird man dann sehen, dass dieser Protest im Parlament, aber auch außerhalb, sehr breit getragen wird.
Das Parlament: Befürchten Sie eigentlich, eine ähnliche Entwicklung wie die Grünen durchzumachen, die ja auch viele ihrer ideellen Ansprüche der Anfangszeit im Zuge ihrer wachsenden Beiteiligung an Machtpositionen aufgegeben haben?
Ulrich Maurer: Wir sehen diese Gefahr. Aber sie ist bei uns geringer, weil die Grünen schon im Ansatz eine liberale Partei waren, eine sehr individualistische, eine sehr individuelle Freiheitsrechte betonende Partei. Und so war bei den Grünen eigentlich immer nur die Frage, ob sie ein linkes liberales Projekt werden oder ob sie eher ein neoliberales Projekt werden. Dieser Machtkampf hat ja innerhalb der Grünen auch lange Zeit stattgefunden - und ist jetzt faktisch zugunsten des neoliberalen Projektes entschieden worden. Die Grünen sind heute neoliberal plus ökologisch.
Das Parlament: Zahlreiche Landtagswahlen stehen im Jahr 2006 vor der Tür: Wie sehen Sie die Chancen der Linkspartei, was ist ihr Ziel?
Ulrich Maurer: Wir wollen in Sachsen-Anhalt Regierungsverantwortung erlangen. Nicht umsonst haben wir dort einen eigenen Ministerpräsidentenkandidaten aufgestellt. Und ich bin mir sicher, dass wir die SPD da weit hinter uns lassen werden. Wir wollen in Rheinland-Pfalz in den Landtag einziehen, das ist auch realistisch nach unserem guten Abschneiden von über fünf Prozent bei der Bundestagswahl. Und wir wollen in Baden-Württemberg versuchen, ob wir es nicht auch dort schaffen, obwohl dort die Voraussetzungen schwieriger sind. Im Süden ist es ein wichtiger Zwischenschritt, daraufhin eine breite kommunalpolitische Verankerung zu bekommen. Ich denke, dass wir bei der nächsten Kommunalwahl in Baden-Württemberg eine dreistellige Zahl von Mandatsträgern erreichen werden.
Das Parlament: Sie sprachen davon, dass die Voraussetzungen im Süden schwieriger sind. Wie ist denn die Akzeptanz einer Partei, die immer noch als "Ost-Partei" wahrgenommen wird, in einem Land wie Baden-Württemberg?
Ulrich Maurer: Also, die alte PDS war im Süden völlig chancenlos. Wir haben die Ergebnisse bei der Bundestagswahl verfünffacht, einfach deswegen, weil wir im Süden mit Personen in Erscheinung treten, die in der Bevölkerung bekannt sind und überhaupt nicht als fremd empfunden werden. Insofern schwinden da die Vorbehalte.