Die Schwester der Geisel hatte fast keine Worte mehr. "Ich bin gerührt", sagte Anja Osthoff am Mittwochabend zu den rund 300 Menschen, die mit Windlichtern, "Pace"-Flaggen und Plakaten zum Brandenburger Tor gekommen waren, um ihre Solidarität mit der entführten Susanne Osthoff zu zeigen. "Die Message an die Entführer muss sein, meine Schwester freizulassen. Sie ist ein besonderer Mensch", appellierte Anja Osthoff auf der kleinen Bühne auf dem Pariser Platz.
Keine Massen hatten sich nach Berlin-Mitte aufgemacht, aber genug, um "Schulter an Schulter" zu zeigen, dass die Geisel im Irak nicht vergessen ist. Das hatte sich der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, von seinem Aufruf zur Mahnwache erhofft. Jetzt dankte er den Deutschen, Türken, anderen Migranten, "einfach Berlinerinnen und Berlinern", dass sie gekommen waren. Nach dem schweren Erdbeben in der Türkei 1999 hätte es große Solidarität aus Deutschland gegeben. Nun sei es an der Zeit, das zurückzugeben, sagte Kolat. Als mündige Bürger dieses Landes fühlten sich die Deutschland-Türken mitverantwortlich für das, was hier geschehe, und man wolle allen mitteilen, dass die Entführung von Frau Osthoff mit dem Wesen des Islam nicht zu vereinbaren sei. "Liebe Frau Anja Osthoff und Familie, unsere Herzen sind bei Euch", sagte Kolat. Der Gemeinde-Vorsitzende empfahl der Bundesregierung, sich an die türkische Regierung zu wenden, da diese viele Kontakte in den Nahen Osten habe und eine Brückenfunktion übernehmen könne. Kolat betonte, dass die gezeigte Solidarität natürlich ebenso für den Fahrer von Susanne Osthoff gelte.
Von Schulterschluss und Solidarität war auch unter den Teilnehmern viel die Rede. "Ich möchte der Familie ein Zeichen geben, dass wir mitfühlen", sagt Inge Buchenau. Sie hat im Radio von der Mahnwache gehört und ist ganz spontan hergekommen. Extra aus Wolfsburg ist Ömer Köskerogulu angereist: "Ich finde es wichtig, zu zeigen, dass wir gegen Gewalt sind." Mit Gewalt habe der Islam nämlich überhaupt nichts zu tun, so Köskerogulu weiter. "Susanne Osthoff steht für Menschlichkeit", sagt Eren Cemal, um zu begründen, warum er mit seiner Frau in der Kälte ausharrt.
"Freiheit für Susanne Osthoff" steht auf den Pappschildern, die viele Demonstranten in den Händen halten. Sie wurden von dem Medikamenten-Hilfswerk action medeor verteilt, für das auch Osthoff arbeitete. Alle Altersgruppen finden sich unter den Menschen, auch von den Nationalitäten her sind sie gemischt. Viele haben sich Buttons mit dem Foto der entführten Deutschen an die Winterjacken gesteckt. Ein Glühweinverkäufer wittert ein einträgliches Geschäft und schleppt eine Riesenthermoskanne durch die Reihen der Frierenden.
Einige zeigen sich ein wenig enttäuscht über die relativ geringe Teilnehmerzahl - die türkische Gemeinde hatte mit 2.000 Menschen gerechnet. "Es ist schade für Berlin", sagt Volker Örtle. Auch wenn es in anderen Städten wie dem kleinen Heimatort Osthoffs auch keine große Resonanz für die Mahnwachen gegeben habe, hätte das in der Hauptstadt anders sein können, findet er. "Ich habe es nicht anders erwartet", sagt die junge Deutsch-Türkin Arzu Jäger. Es hätten sich nicht genug Foren gebildet, die die Forderung nach Freilassung von Osthoff in der Öffentlichkeit verbreiteten. Zudem fühlten sich die Deutschen weniger betroffen, da ihr Land nicht am Irak-Krieg beteiligt gewesen sei. Und ein Einzelschicksal berühre halt weniger als die Riesenanzahl von Opfern beispielsweise durch die Tsunami-Katastrophe in Südasien, meint die junge Frau. Örtle fragt sich, ob Osthoff bei ihren Aktivitäten im Irak vielleicht hätte umsichtiger vorgehen können, aber einer Frau, die so viel riskiert, um anderen Menschen zu helfen, will er unbedingt seine Solidarität zeigen.
Die Grünen-Politikerin und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Katrin Göring-Eckhardt, bezeichnete Osthoff als "ungewöhnlichen Menschen mit ungewöhnlichem Lebenslauf". Solcher Menschen bedürfe es vielleicht, um etwas Ungewöhnliches gegen Gewalt und Zerstörung zu bewirken. Sie dankte der Türkischen Gemeinde für die Zeichen, die sie gegen Gewalt und Menschenverachtung gesetzt habe. "Diese Botschaft hat die Menschen in Deutschland erreicht und beeindruckt", sagte die Bundestagsabgeordnete in ihrer Rede. Nachdem in Deutschland viel darüber diskutiert worden war, ob der Geisel öffentlichkeitswirksame Aktionen oder unbeteiligtes Stillschweigen mehr nütze, erinnerte Göring-Eckhardt an die Journalistin Juliana Sgrena. Die ebenfalls im Irak entführte und dann wieder freigelassene Italienerin habe erst kürzlich geäußert, wie wichtig die Solidaritätsbekundungen für sie gewesen seien.
Nach einer guten Stunde machen sich viele Teilnehmer schon wieder auf den Weg nach Hause. Marcel Huijgen hat es sich hingegen auf einer Decke auf dem Fußboden in der Mitte des Pariser Platzes bequem gemacht. Er hat einen großen Rucksack dabei, vor ihm stehen eine Flasche Bier und etliche Kerzen. Viele derjenigen, die schon aufbrechen, stellen ihre Lichter bei ihm ab. Er habe sich auf ein längeres Mahnwache-Halten eingestellt, sagt der junge Mann. Selbstverständlich sei es für ihn, sich für eine Frau einzusetzen, die sich so sehr für andere Menschen engagiert habe, obwohl im Irak Krieg und Chaos herrschten. Sein Freund Areg Nalbandya kommt aus Armenien. Dort sei er während des Krieges mit Aserbaidschan aufgewachsen und wisse aus eigener Erfahrung, wie wichtig Hilfe und Solidarität von außen sei. "Ich bleibe hier, bis der Letzte gegangen ist", sagt er.