Manchmal wissen die Betroffenen um den Transport. Manchmal geschieht er ohne ihre Zustimmung. Manchmal kennen die Transportierten ihr Zielland gar nicht. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt sind ungefähr 2,5 Millionen Menschen Opfer von Menschenhandel. Fast Dreiviertel davon sind Frauen und Mädchen. Diese Hochrechnungen hat das Internationale Arbeitsamt in Genf (IAO) in seiner im Jahr 2005 vorgelegten Studie "Eine globale Allianz gegen Zwangsarbeit" als Mindestschätzungen ermittelt.
Als Menschenhandel bezeichnen die Vereinten Nationen die Anwerbung, Beförderung, Entgegennahme oder Beherbergung von Personen durch Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderer Formen der Nötigung, durch Entführung, Betrug oder Täuschung zum Zwecke der Ausbeutung. Ausbeutung umfasst mindestens "die Ausnutzung der Prostitution anderer oder andere Formen sexueller Ausbeutung, Zwangsarbeit oder Zwangsdienstbarkeit, Sklaverei oder sklavenähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder die Entnahme von Körperorganen". Aus der Studie des Internationalen Arbeitsamts geht hervor, dass etwa 40 Prozent der Betroffenen sexuell ausgebeutet werden. Etwa ein Drittel der von Menschenhandel Betroffenen werden dem Bericht zufolge zu anderen wirtschaftlichen Zwecken ausgenutzt. Bei einem Viertel der Menschen ist die Zuschreibung, zu welchem Zwecke sie ausgebeutet werden, unklar.
"Dass Sklaverei in Form von Menschenhandel im 21. Jahrhundert noch existiert, beschämt uns alle", schreibt Antonio Maria Costa, der geschäftsführende Direktor des United Nations Office on Drug and Crime (UNODC) in seiner im Frühjahr 2006 herausgegebenen Studie zu Menschenhandel "Trafficking in Person: Global Patterns". Bei der Diskussion um den Menschenhandel wird zwischen Herkunfts-, Transit- und Zielländern unterschieden. Entsprechend der UNODC-Studie gelten Afrika, Brasilien, große Teile Südostasiens und die ehemaligen sozialistischen Länder außerhalb der EU-Grenzen vorwiegend als Herkunftsländer. Zu den beliebtesten Zielen gehören Westeuropa, die USA und Kanada, Australien, aber auch die arabischen Staaten. Ziel- und gleichzeitig Herkunftsländer sind insbesondere China und Thailand. Während in den Industriestaaten etwa drei Viertel der Betroffenen für sexuelle Zwecke ausgebeutet werden, hat die wirtschaftliche Ausbeutung im Nahen Osten einen höheren Stellenwert.
Anders als beim Warenhandel steckt hinter dem Menschenhandel immer eine individuelle Geschichte dahinter. Es gibt Gründe, warum die Gehandelten, mal freiwillig, mal aus Unwissenheit, mal mit Gewalt, aus ihren Herkunftsländern aus in die Handelskette kommen. Es gibt Gründe dafür, dass es diese Handelsketten und das Angebot, den eigenen Körper zu Markte zu tragen, gibt. Und es gibt Gründe dafür, dass die Menschen, die ihre Körper zu Markte tragen, in den Zielländern ausbeutbar sind.
Menschenhandel ist ein einträgliches Geschäft im Bereich der organisierten Kriminalität. Nicht nur die Akteure, die Transport und Grenzübertritte organisieren, profitieren davon. Denn da die staatlichen Regelungen in den Zielländern den Migranten und Migrantinnen so gut wie nie Zugang zum legalen Arbeitsmarkt gewähren, sind ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen Tür und Tor geöffnet. Das Internationale Arbeitsamt geht davon aus, dass die illegalen Gewinne, die heutige Ausbeuter gewöhnlich straflos mit den eingeschleusten Opfern von Zwangsarbeit in einem Jahr weltweit erzielen, bei 30 Milliarden US-Dollar liegen. Etwa die Hälfte davon wird in Europa erwirtschaftet. Mittlerweile wird davon ausgegangen, dass die Profite jene aus dem Drogengeschäft übersteigen. Die Ausgangslage fürs Geschäft stimmt aus Sicht der Täter auf jeden Fall: Die Nachfrage nach billiger Arbeit oder nach Sex ist vorhanden und die gesetzliche Handhabe viktimisiert nicht nur in erster Linie die Opfer, sondern die rigiden Einreise- und Arbeitsregelungen in den Zielländern machen es den Tätern leicht, die Opfer, denen sie die Kosten für den Transit in Rechnung stellen, in Abhängigkeit zu halten. Die Passage von Asien nach Deutschland kostet nach Erfahrungswerten, die die Berliner Opferberatungsstelle Ban Ying nennt, etwa 15.000 Euro. Die von Osteuropa liegt bei ungefähr 4.000 Euro. Die Abhängigkeit, in der die Betroffenen gehalten werden, ist dabei nicht zwangsläufig die gewerbliche Prostitution.
Gan U. hat vor sieben Jahren einen Deutschen geheiratet und zog nach Berlin. Er behandelte sie wie sein Privateigentum, verbot ihr in den folgenden Jahren, das Haus alleine zu verlassen und versuchte sogar zu unterbinden, dass sie mit dem gemeinsamen Kind Thailändisch sprach. Bekannt wurde dieser Zustand erst, als er ihrer überdrüssig war, sich scheiden ließ und darauf bestand, das Sorgerecht für das Kind zu bekommen, da sie nicht mit ihm kommunizieren könne. Dies ist ein Fall von Menschenhandel, respektive Heiratshandel, mit dem sich Ban Ying 2006 beschäftigte.
Ein weiterer Fall aus diesem Jahr passt ebenfalls nicht in die gängige Vorstellung, dass Menschenhandel automatisch mit Zwangsprostitution gleichgesetzt werden kann. Dabei hat ein in Berlin lebender Botschaftsangehöriger eines asiatischen Landes eine asiatische Frau als Haushaltshilfe angestellt. Sie musste bis zu 18 Stunden täglich arbeiten. Nur unregelmäßig wurden ihr 250 Euro im Monat bezahlt.
Bisher gibt es kaum Untersuchungen zur wirtschaftlichen Ausbeutung von Opfern. Die Vereinten Nationen forderten ihre Mitgliedstaaten bereits vor sechs Jahren auf, juristisch den Straftatbestand von Menschenhandel auch auf nicht-sexuelle Ausbeutung auszuweiten. Die Bundesregierung hat dies erst 2006 ins Strafgesetzbuch aufgenommen. Die Fußballweltmeisterschaft mag dies beschleunigt haben.
Im Vorfeld der WM nämlich kam Deutschland negativ in die Schlagzeilen. Die Zahl von 40.000 zusätzlichen Zwangsprostituierten kam in Umlauf, die angeblich anlässlich der Spiele ins Land geschleust werden sollten. Im Ausland wurde bereits von der "Huren-WM" gesprochen. Das Fazit der Polizei nach der WM: Keine Zunahme erzwungener Prostitution erkennbar.
Die Diskussion um die Zwangsprostituierten hat am Ende in Deutschland zumindest für eine differenziertere Sicht auf das Thema Menschenhandel und Zwangsprostitution gesorgt. Sie hat deutlich gemacht, dass die derzeitige juristische Handhabe vor allem die Opfer, die ja meist illegal in Deutschland sind, kriminalisiert. Dies gilt für die meisten Zielländer.
Um an die eigentlichen Profiteure des Menschenhandels zu kommen, wäre jedoch eine Gesetzgebung notwendig, die es den Betroffenen erleichtert, gegen jene auszusagen, die sie in die Abhängigkeitssituation gebracht haben. Deshalb fordern Opferberatungsstellen schon lange die Einführung des so genannten italienischen Modells. Italien gewährt aussagewilligen Betroffenen von Menschenhandel ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht. In Deutschland hingegen dürfen aussagewillige Opfer nur bis zum Ende eines Strafverfahrens im Land bleiben. "Das bietet keine Anreize, auszusagen", bemängelt Rechtsanwältin Naile Tanis vom Koordinierungskreis gegen Frauenhandel und Gewalt an Frauen im Mirgrationsprozess (KOK). "Außerdem schützt es sie nicht." Aussagewillige Opfer von Menschenhandel und ihre Familien sind unter Umständen großen Einschüchterungen aus dem Umfeld der Täter ausgesetzt. Menschenhandel ist ein Synonym für globale gesellschaftliche, ökonomische, rechtliche Fehlentwicklungen. So bringt es Nivedita Prasad von Ban Ying auf den Punkt: "Es spiegelt sowohl die ungleichen wirtschaftlichen Bedingungen weltweit als auch die ungleichen Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern."
Waltraud Schwab ist Redakteurin der "tageszeitung" in Berlin.