Weizsäcker Rede zum 8.Mai 1985
Ansprache des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges
Viele Völker gedenken heute des Tages, an dem der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende ging. Seinem Schicksal gemäß hat jedes Volk dabei seine eigenen Gefühle. Sieg oder Niederlage, Befreiung von Unrecht und Fremdherrschaft oder Übergang zu neuer Abhängigkeit, Teilung, neue Bündnisse, gewaltige Machtverschiebungen - der 8. Mai 1945 ist ein Datum von entscheidender historischer Bedeutung in Europa.
Wir Deutsche begehen den Tag unter uns, und das ist notwendig.
Wir müssen die Maßstäbe allein finden. Schonung
unserer Gefühle durch uns selbst oder durch andere hilft nicht
weiter. Wir brauchen und wir haben die Kraft, der Wahrheit so gut
wir es können ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und
ohne Einseitigkeit.
Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an
das, was Menschen erleiden mußten. Er ist zugleich ein Tag
des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte. Je ehrlicher
wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen
verantwortlich zu stellen.
Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die
Menschen, die ihn bewußt erlebt haben, denken an ganz
persönliche und damit ganz unterschiedliche Erfahrungen
zurück. Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos.
Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft.
Viele waren einfach nur dafür dankbar, daß
Bombennächte und Angst vorüber und sie mit dem Leben
davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über die
vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes. Verbittert
standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar waren andere
Deutsche für den geschenkten neuen Anfang.
Es war schwer, sich alsbald klar zu orientieren. Ungewißheit
erfüllte das Land. Die militärische Kapitulation war
bedingungslos. Unser Schicksal in der Hand der Feinde. Die
Vergangenheit war furchtbar gewesen, zumal auch für viele
dieser Feinde. Würden sie uns nun nicht vielfach entgelten
lassen, was wir ihnen angetan hatten?
Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache des
eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Und nun sollte sich
herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos,
sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen
Führung gedient. Erschöpfung, Ratlosigkeit und neue
Sorgen kennzeichneten die Gefühle der meisten. Würde man
noch eigene Angehörige finden? Hatte ein Neuaufbau in diesen
Ruinen überhaupt Sinn?
Der Blick ging zurück in einen dunklen Abgrund der
Vergangenheit und nach vorn in eine ungewisse dunkle Zukunft.
Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns
alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.
Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren
Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und
danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die
Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie
liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener
Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte.
Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933
trennen.
Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an
Siegesfesten zu beteiligen. Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai
1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen,
das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg.
Der 8. Mai ist ein Tag der Erinnerung. Erinnern heißt,
eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, daß es zu
einem Teil des eigenen Innern wird. Das stellt große
Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit.
Wir gedenken heute in Trauer aller Toten des Krieges und der
Gewaltherrschaft.
Wir gedenken insbesondere der sechs Millionen Juden, die in
deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden.
Wir gedenken aller Völker, die im Krieg gelitten haben, vor
allem der unsäglich vielen Bürger der Sowjetunion und der
Polen, die ihr Leben verloren haben.
Als Deutsche gedenken wir in Trauer der eigenen Landsleute, die als
Soldaten, bei den Fliegerangriffen in der Heimat, in Gefangenschaft
und bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind.
Wir gedenken der ermordeten Sinti und Roma, der getöteten
Homosexuellen, der umgebrachten Geisteskranken, der Menschen, die
um ihrer religiösen oder politischen Überzeugung willen
sterben mußten.
Wir gedenken der erschossenen Geiseln.
Wir denken an die Opfer des Widerstandes in allen von uns besetzten
Staaten.
Als Deutsche ehren wir das Andenken der Opfer des deutschen
Widerstandes, des bürgerlichen, des militärischen und
glaubensbegründeten, des Widerstandes in der Arbeiterschaft
und bei Gewerkschaften, des Widerstandes der Kommunisten.
Wir gedenken derer, die nicht aktiv Widerstand leisteten, aber eher
den Tod hinnahmen, als ihr Gewissen zu beugen.
Neben dem unübersehbar großen Heer der Toten erhebt sich
ein Gebirge menschlichen Leids,
Leid um die Toten,
Leid durch Verwundung und Verkrüppelung,
Leid durch unmenschliche Zwangssterilisierung,
Leid in Bombennächten,
Leid durch Flucht und Vertreibung, durch Vergewaltigung und
Plünderung, durch Zwangsarbeit, durch Unrecht und Folter,
durch Hunger und Not,
Leid durch Angst vor Verhaftung und Tod,
Leid durch Verlust all dessen, woran man irgend geglaubt und
wofür man gearbeitet hatte.
Heute erinnern wir uns dieses menschlichen Leids und gedenken
seiner in Trauer.
Den vielleicht größten Teil dessen, was den Menschen
aufgeladen war, haben die Frauen der Völker getragen.
Ihr Leiden, ihre Entsagung und ihre stille Kraft vergißt die
Weltgeschichte nur allzu leicht. Sie haben gebangt und gearbeitet,
menschliches Leben getragen und beschützt. Sie haben getrauert
um gefallene Väter und Söhne, Männer, Brüder
und Freunde.
Sie haben in den dunkelsten Jahren das Licht der Humanität vor
dem Erlöschen bewahrt.
Am Ende des Krieges haben sie als erste und ohne Aussicht auf eine
gesicherte Zukunft Hand angelegt, um wieder einen Stein auf den
anderen zu setzen, die Trümmerfrauen in Berlin und
überall.
Als die überlebenden Männer heimkehrten, mußten
Frauen oft wieder zurückstehen. Viele Frauen blieben aufgrund
des Krieges allein und verbrachten ihr Leben in Einsamkeit.
Wenn aber die Völker an den Zerstörungen, den
Verwüstungen, den Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten
innerlich nicht zerbrachen, wenn sie nach dem Krieg langsam wieder
zu sich selbst kamen, dann verdanken wir es zuerst unseren
Frauen.
Am Anfang der Gewaltherrschaft hatte der abgrundtiefe Haß
Hitlers gegen unsere jüdischen Mitmenschen gestanden. Hitler
hatte ihn nie vor der Öffentlichkeit verschwiegen, sondern das
ganze Volk zum Werkzeug dieses Hasses gemacht. Noch am Tag vor
seinem Ende am 30. April 1945 hatte er sein sogenanntes Testament
mit den Worten abgeschlossen: "Vor allem verpflichte ich die
Führung der Nation und die Gefolgschaft zur peinlichen
Einhaltung der Rassengesetze und zum unbarmherzigen Widerstand
gegen den Weltvergifter aller Völker, das internationale
Judentum."
Gewiß, es gibt kaum einen Staat, der in seiner Geschichte
immer frei blieb von schuldhafter Verstrickung in Krieg und Gewalt.
Der Völkermord an den Juden jedoch ist beispiellos in der
Geschichte.
Die Ausführung des Verbrechens lag in der Hand weniger. Vor
den Augen der Öffentlichkeit wurde es abgeschirmt. Aber jeder
Deutsche konnte miterleben, was jüdische Mitbürger
erleiden mußten, von kalter Gleichgültigkeit über
versteckte Intoleranz bis zu offenem Haß.
Wer konnte arglos bleiben nach den Bränden der Synagogen, den
Plünderungen, der Stigmatisierung mit dem Judenstern, dem
Rechtsentzug, der unaufhörlichen Schändung der
menschlichen Würde?
Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte,
dem konnte nicht entgehen, daß Deportationszüge rollten.
Die Phantasie der Menschen mochte für Art und Ausmaß der
Vernichtung nicht ausreichen. Aber in Wirklichkeit trat zu den
Verbrechen selbst der Versuch allzu vieler, auch in meiner
Generation, die wir jung und an der Planung und Ausführung der
Ereignisse unbeteiligt waren, nicht zur Kenntnis zu nehmen, was
geschah.
Es gab viele Formen, das Gewissen ablenken zu lassen, nicht
zuständig zu sein, wegzuschauen, zu schweigen. Als dann am
Ende des Krieges die ganze unsagbare Wahrheit des Holocaust
herauskam, beriefen sich allzu viele von uns darauf, nichts
gewußt oder auch nur geahnt zu haben.
Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht. Schuld ist,
wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich.
Es gibt entdeckte und verborgen gebliebene Schuld von Menschen. Es
gibt Schuld, die sich Menschen eingestanden oder abgeleugnet haben.
Jeder, der die Zeit mit vollem Bewußtsein erlebt hat, frage
sich heute im Stillen selbst nach seiner Verstrickung.
Der ganz überwiegende Teil unserer heutigen Bevölkerung
war zur damaligen Zeit entweder im Kindesalter, oder noch gar nicht
geboren. Sie können nicht eine eigene Schuld bekennen für
Taten, die sie gar nicht begangen haben.
Kein fühlender Mensch erwartet von ihnen, ein
Büßerhemd zu tragen, nur weil sie Deutsche sind. Aber
die Vorfahren haben ihnen eine schwere Erbschaft
hinterlassen.
Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die
Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen
und für sie in Haftung genommen.
Jüngere und Ältere müssen und können sich
gegenseitig helfen zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die
Erinnerung wachzuhalten.
Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man
gar nicht. Sie läßt sich ja nicht nachträglich
ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit
die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer
sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder
anfällig für neue Ansteckungsgefahren.
Das jüdische Volk erinnert sich und wird sich immer erinnern.
Wir suchen als Menschen Versöhnung.
Gerade deshalb müssen wir verstehen, daß es
Versöhnung ohne Erinnerung gar nicht geben kann. Die Erfahrung
millionenfachen Todes ist ein Teil des Innern jedes Juden in der
Welt, nicht nur deshalb, weil Menschen ein solches Grauen nicht
vergessen können. Sondern die Erinnerung gehört zum
jüdischen Glauben.
"Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis
der Erlösung heißt Erinnerung."
Diese oft zitierte jüdische Weisheit will wohl besagen,
daß der Glaube an Gott ein Glaube an sein Wirken in der
Geschichte ist.
Die Erinnerung ist die Erfahrung vom Wirken Gottes in der
Geschichte. Sie ist die Quelle des Glaubens an die Erlösung.
Diese Erfahrung schafft Hoffnung, sie schafft Glauben an
Erlösung, an Wiedervereinigung des Getrennten, an
Versöhnung. Wer sie vergißt, verliert den Glauben.
Würden wir unsererseits vergessen wollen, was geschehen ist,
anstatt uns zu erinnern, dann wäre dies nicht nur
unmenschlich. Sondern wir würden damit dem Glauben der
überlebenden Juden zu nahe treten, und wir würden den
Ansatz zur Versöhnung zerstören.
Für uns kommt es auf ein Mahnmal des Denkens und Fühlens
in unserem eigenen Innern an.
Der 8. Mai ist ein tiefer historischer Einschnitt, nicht nur in der
deutschen, sondern auch in der europäischen Geschichte. Der
europäische Bürgerkrieg war an sein Ende gelangt, die
alte europäische Welt zu Bruch gegangen. "Europa hatte sich
ausgekämpft" (M. Stürmer). Die Begegnung amerikanischer
und sowjetrussischer Soldaten an der Elbe wurde zu einem Symbol
für das vorläufige Ende einer europäischen
Ära.
Gewiß, das alles hatte seine alten geschichtlichen Wurzeln.
Großen, ja bestimmenden Einfluß hatten die
Europäer in der Welt, aber ihr Zusammenleben auf dem eigenen
Kontinent zu ordnen, das vermochten sie immer schlechter. Über
hundert Jahre lang hatte Europa unter dem Zusammenprall
nationalistischer Übersteigerungen gelitten. Am Ende des
Ersten Weltkrieges war es zu Friedensverträgen gekommen. Aber
ihnen hatte die Kraft gefehlt, Frieden zu stiften. Erneut waren
nationalistische Leidenschaften aufgeflammt und hatten sich mit
sozialen Notlagen verknüpft.
Auf dem Weg ins Unheil wurde Hitler die treibende Kraft. Er
erzeugte und er nutzte Massenwahn. Eine schwache Demokratie war
unfähig, ihm Einhalt zu gebieten. Und auch die
europäischen Westmächte, nach Churchills Urteil "arglos,
nicht schuldlos", trugen durch Schwäche zur
verhängnisvollen Entwicklung bei. Amerika hatte sich nach dem
Ersten Weltkrieg wieder zurückgezogen und war in den
dreißiger Jahren ohne Einfluß auf Europa.
Hitler wollte die Herrschaft über Europa, und zwar durch
Krieg. Den Anlaß dafür suchte und fand er in
Polen.
Am 23. Mai 1939 - wenige Monate vor Kriegsausbruch - erklärte
er vor der deutschen Generalität: "Weitere Erfolge können
ohne Blutvergießen nicht mehr errungen werden... Danzig ist
nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um
die Erweiterung des Lebensraumes im Osten und Sicherstellung der
Ernährung ... Es entfällt also die Frage, Polen zu
schonen, und bleibt der Entschluß, bei erster passender
Gelegenheit Polen anzugreifen ... Hierbei spielen Recht oder
Unrecht oder Verträge keine Rolle".
Am 23. August 1939 wurde der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt
geschlossen. Das geheime Zusatzprotokoll regelte die bevorstehende
Aufteilung Polens.
Der Vertrag wurde geschlossen, um Hitler den Einmarsch in Polen zu
ermöglichen. Das war der damaligen Führung der
Sowjetunion voll bewußt. Allen politisch denkenden Menschen
jener Zeit war klar, daß der deutsch-sowjetische Pakt Hitlers
Einmarsch in Polen und damit den Zweiten Weltkrieg bedeutete.
Dadurch wird die deutsche Schuld am Ausbruch des Zweiten
Weltkrieges nicht verringert. Die Sowjetunion nahm den Krieg
anderer Völker in Kauf, um sich am Ertrag zu beteiligen. Die
Initiative zum Krieg aber ging von Deutschland aus, nicht von der
Sowjetunion.
Es war Hitler, der zur Gewalt griff. Der Ausbruch des Zweiten
Weltkrieges bleibt mit dem deutschen Namen verbunden.
Während dieses Krieges hat das nationalsozialistische Regime
viele Völker gequält und geschändet.
Am Ende blieb nur noch ein Volk übrig, um gequält,
geknechtet und geschändet zu werden: das eigene, das deutsche
Volk. Immer wieder hat Hitler ausgesprochen: wenn das deutsche Volk
schon nicht fähig sei, in diesem Krieg zu siegen, dann
möge es eben untergehen. Die anderen Völker wurden
zunächst Opfer eines von Deutschland ausgehenden Krieges,
bevor wir selbst zu Opfern unseres eigenen Krieges wurden.
Es folgte die von den Siegermächten verabredete Aufteilung
Deutschlands in verschiedene Zonen. Inzwischen war die Sowjetunion
in alle Staaten Ost- und Südosteuropas, die während des
Krieges von Deutschland besetzt worden waren, einmarschiert. Mit
Ausnahme Griechenlands wurden alle diese Staaten sozialistische
Staaten.
Die Spaltung Europas in zwei verschiedene politische Systeme nahm
ihren Lauf. Es war erst die Nachkriegsentwicklung, die sie
befestigte. Aber ohne den von Hitler begonnenen Krieg wäre sie
nicht gekommen. Daran denken die betroffenen Völker zuerst,
wenn sie sich des von der deutschen Führung ausgelösten
Krieges erinnern.
Im Blick auf die Teilung unseres eigenen Landes und auf den Verlust
großer Teile des deutschen Staatsgebietes denken auch wir
daran. In seiner Predigt zum 8. Mai sagt Kardinal Meißner in
Ostberlin: "Das trostlose Ergebnis der Sünde ist immer die
Trennung".
Die Willkür der Zerstörung wirkte in der
willkürlichen Verteilung der Lasten nach. Es gab Unschuldige,
die verfolgt wurden, und Schuldige, die entkamen. Die einen hatten
das Glück, zu Hause in vertrauter Umgebung ein neues Leben
aufbauen zu können. Andere wurden aus der angestammten Heimat
vertrieben.
Wir in der späteren Bundesrepublik Deutschland erhielten die
kostbare Chance der Freiheit. Vielen Millionen Landsleuten bleibt
sie bis heute versagt.
Die Willkür der Zuteilung unterschiedlicher Schicksale
ertragen zu lernen, war die erste Aufgabe im Geistigen, die sich
neben der Aufgabe des materiellen Wiederaufbaus stellte. An ihr
mußte sich die menschliche Kraft erproben, die Lasten anderer
zu erkennen, an ihnen dauerhaft mitzutragen, sie nicht zu
vergessen. In ihr mußte die Fähigkeit zum Frieden und
die Bereitschaft zur Versöhnung nach innen und außen
wachsen, die nicht nur andere von uns forderten, sondern nach denen
es uns selbst am allermeisten verlangte.
Wir können des 8. Mai nicht gedenken, ohne uns bewußt zu
machen, welche Überwindung die Bereitschaft zur
Aussöhnung den ehemaligen Feinden abverlangte. Können wir
uns wirklich in die Lage von Angehörigen der Opfer des
Warschauer Ghettos oder des Massakers von Lidice versetzen?
Wie schwer mußte es aber auch einem Bürger in Rotterdam
oder London fallen, den Wiederaufbau unseres Landes zu
unterstützen, aus dem die Bomben stammten, die erst kurze Zeit
zuvor auf seine Stadt gefallen waren! Dazu mußte
allmählich eine Gewißheit wachsen, daß Deutsche
nicht noch einmal versuchen würden, eine Niederlage mit Gewalt
zu korrigieren.
Bei uns selbst wurde das Schwerste den Heimatvertriebenen
abverlangt. Ihnen ist noch lange nach dem 8. Mai bitteres Leid und
schweres Unrecht widerfahren. Um ihrem schweren Schicksal mit
Verständnis zu begegnen, fehlt uns Einheimischen oft die
Phantasie und auch das offene Herz.
Aber es gab alsbald auch große Zeichen der Hilfsbereitschaft.
Viele Millionen Flüchtlinge und Vertriebene wurden
aufgenommen. Im Laufe der Jahre konnten sie neue Wurzeln schlagen.
Ihre Kinder und Enkel bleiben auf vielfache Weise der Kultur und
der Liebe zur Heimat ihrer Vorfahren verbunden. Das ist gut so,
denn das ist ein wertvoller Schatz in ihrem Leben.
Sie haben aber selbst eine neue Heimat gefunden, in der sie mit den
gleichaltrigen Einheimischen aufwachsen und zusammenwachsen, ihre
Mundart sprechen und ihre Gewohnheiten teilen. Ihr junges Leben ist
ein Beweis für die Fähigkeit zum inneren Frieden. Ihre
Großeltern oder Eltern wurden einst vertrieben, sie jedoch
sind jetzt zu Hause.
Früh und beispielhaft haben sich die Heimatvertriebenen zum
Gewaltverzicht bekannt. Das war keine vergängliche
Erklärung im anfänglichen Stadium der Machtlosigkeit,
sondern ein Bekenntnis, das seine Gültigkeit behält.
Gewaltverzicht bedeutet, allseits das Vertrauen wachsen zu lassen,
daß auch ein wieder zu Kräften gekommenes Deutschland
daran gebunden bleibt.
Die eigene Heimat ist mittlerweile anderen zur Heimat geworden. Auf
vielen alten Friedhöfen im Osten finden sich heute schon mehr
polnische als deutsche Gräber.
Der erzwungenen Wanderschaft von Millionen Deutschen nach Westen
folgten Millionen Polen und ihnen wiederum Millionen Russen. Es
sind alles Menschen, die nicht gefragt wurden, Menschen, die
Unrecht erlitten haben, Menschen, die wehrlose Objekte der
politischen Ereignisse wurden und denen keine Aufrechnung von
Unrecht und keine Konfrontation von Ansprüchen wiedergutmachen
kann, was ihnen angetan worden ist.
Gewaltverzicht heute heißt, den Menschen dort, wo sie das
Schicksal nach dem 8. Mai hingetrieben hat und wo sie nun seit
Jahrzehnten leben, eine dauerhafte, politisch unangefochtene
Sicherheit für ihre Zukunft zu geben. Es heißt, den
widerstreitenden Rechtsansprüchen das Verständigungsgebot
überzuordnen.
Darin liegt der eigentliche, der menschliche Beitrag zu einer
europäischen Friedensordnung, der von uns ausgehen kann.
Der Neuanfang in Europa nach 1945 hat dem Gedanken der Freiheit und
Selbstbestimmung Siege und Niederlagen gebracht. Für uns gilt
es, die Chance des Schlußstrichs unter eine lange Periode
europäischer Geschichte zu nutzen, in der jedem Staat Frieden
nur denkbar und sicher schien als Ergebnis eigener
Überlegenheit und in der Frieden eine Zeit der Vorbereitung
des nächsten Krieges bedeutete.
Die Völker Europas lieben ihre Heimat. Den Deutschen geht es
nicht anders. Wer könnte der Friedensliebe eines Volkes
vertrauen, das imstande wäre, seine Heimat zu vergessen?
Nein, Friedensliebe zeigt sich gerade darin, daß man seine
Heimat nicht vergißt und eben deshalb entschlossen ist, alles
zu tun, um immer in Frieden miteinander zu leben. Heimatliebe eines
Vertriebenen ist kein Revanchismus.
Stärker als früher hat der letzte Krieg die
Friedenssehnsucht im Herzen der Menschen geweckt. Die
Versöhnungsarbeit von Kirchen fand eine tiefe Resonanz.
Für die Verständigungsarbeit von jungen Menschen gibt es
viele Beispiele. Ich denke an die "Aktion Sühnezeichen" mit
ihrer Tätigkeit in Auschwitz und Israel. Eine Gemeinde der
niederrheinischen Stadt Kleve erhielt neulich Brote aus polnischen
Gemeinden als Zeichen der Aussöhnung und Gemeinschaft. Eines
dieser Brote hat sie an einen Lehrer nach England geschickt. Denn
dieser Lehrer aus England war aus der Anonymität
herausgetreten und hatte geschrieben, er habe damals im Krieg als
Bombenflieger Kirchen und Wohnhäuser in Kleve zerstört
und wünschte sich ein Zeichen der Aussöhnung.
Es hilft unendlich viel zum Frieden, nicht auf den anderen zu
warten, bis er kommt, sondern auf ihn zuzugehen, wie dieser Mann es
getan hat. In seiner Folge hat der Krieg alte Gegner menschlich und
auch politisch einander nähergebracht. Schon 1946 rief der
amerikanische Außenminister Byrnes in seiner
denkwürdigen Stuttgarter Rede zur Verständigung in Europa
und dazu auf, dem deutschen Volk auf seinem Weg in eine freie und
friedliebende Zukunft zu helfen.
Unzählige amerikanische Bürger haben damals mit ihren
privaten Mitteln uns Deutsche, die Besiegten, unterstützt, um
die Wunden des Krieges zu heilen.
Dank der Weitsicht von Franzosen wie Jean Monnet und Robert Schuman
und von Deutschen wie Konrad Adenauer endete eine alte Feindschaft
zwischen Franzosen und Deutschen für immer.
Ein neuer Strom von Aufbauwillen und Energie ging durch das eigene
Land. Manche alte Gräben wurden zugeschüttet,
konfessionelle Gegensätze und soziale Spannungen verloren an
Schärfe. Partnerschaftlich ging man ans Werk.
Es gab keine "Stunde Null", aber wir hatten die Chance zu einem
Neubeginn. Wir haben sie genutzt, so gut wir konnten. An die Stelle
der Unfreiheit haben wir die demokratische Freiheit gesetzt.
Vier Jahre nach Kriegsende, 1949, am 8. Mai, beschloß der
Parlamentarische Rat unser Grundgesetz. Über Parteigrenzen
hinweg gaben seine Demokraten die Antwort auf Krieg und
Gewaltherrschaft im Artikel 1 unserer Verfassung:
"Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und
unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder
menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in
der Welt."
Auch an diese Bedeutung des 8. Mai gilt es heute zu erinnern.
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein weltweit geachteter Staat
geworden. Sie gehört zu den hochentwickelten
Industrieländern der Welt. Mit ihrer wirtschaftlichen Kraft
weiß sie sich mitverantwortlich dafür, Hunger und Not in
der Welt zu bekämpfen und zu einem sozialen Ausgleich unter
den Völkern beizutragen.
Wir leben seit vierzig Jahren in Frieden und Freiheit, und wir
haben durch unsere Politik unter den freien Völkern des
Atlantischen Bündnisses und der Europäischen Gemeinschaft
dazu selbst einen großen Beitrag geleistet.
Nie gab es auf deutschem Boden einen besseren Schutz der
Freiheitsrechte des Bürgers als heute. Ein dichtes soziales
Netz, das den Vergleich mit keiner anderen Gesellschaft zu scheuen
braucht, sichert die Lebensgrundlage der Menschen.
Hatten sich bei Kriegsende viele Deutsche noch darum bemüht,
ihren Paß zu verbergen oder gegen einen anderen
einzutauschen, so ist heute unsere Staatsbürgerschaft ein
angesehenes Recht.
Wir haben wahrlich keinen Grund zu Überheblichkeit und
Selbstgerechtigkeit. Aber wir dürfen uns der Entwicklung
dieser vierzig Jahre dankbar erinnern, wenn wir das eigene
historische Gedächtnis als Leitlinie für unser Verhalten
in der Gegenwart und für die ungelösten Aufgaben, die auf
uns warten, nutzen.
- Wenn wir uns daran erinnern, daß Geisteskranke im Dritten Reich getötet wurden, werden wir die Zuwendung zu psychisch kranken Bürgern als unsere eigene Aufgabe verstehen.
- Wenn wir uns erinnern, wie rassisch, religiös und politisch Verfolgte, die vom sicheren Tod bedroht waren, oft vor geschlossenen Grenzen anderer Staaten standen, werden wir vor denen, die heute wirklich verfolgt sind und bei uns Schutz suchen, die Tür nicht verschließen.
- Wenn wir uns der Verfolgung des freien Geistes während der Diktatur besinnen, werden wir die Freiheit jedes Gedankens und jeder Kritik schützen, so sehr sie sich auch gegen uns selbst richten mag. - Wer über die Verhältnisse im Nahen Osten urteilt, der möge an das Schicksal denken, das Deutsche den jüdischen Mitmenschen bereiteten, und das die Gründung des Staates Israel unter Bedingungen auslöste, die noch heute die Menschen in dieser Region belasten und gefährden.
- Wenn wir daran denken, was unsere östlichen Nachbarn im Kriege erleiden mußten, werden wir besser verstehen, daß der Ausgleich, die Entspannung und die friedliche Nachbarschaft mit diesen Ländern zentrale Aufgabe der deutschen Außenpolitik bleiben. Es gilt, daß beide Seiten sich erinnern und beide Seiten einander achten. Sie haben menschlich, sie haben kulturell, sie haben letzten Endes auch geschichtlich allen Grund dazu.
Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der
Sowjetunion Michail Gorbatschow hat verlautbart, es ginge der
sowjetischen Führung beim 40. Jahrestag des Kriegsendes nicht
darum, antideutsche Gefühle zu schüren. Die Sowjetunion
trete für Freundschaft zwischen den Völkern ein.
Gerade wenn wir Fragen auch an sowjetische Beiträge zur
Verständigung zwischen Ost und West und zur Achtung von
Menschenrechten in allen Teilen Europas haben, gerade dann sollten
wir dieses Zeichen aus Moskau nicht überhören. Wir wollen
Freundschaft mit den Völkern der Sowjetunion.
Vierzig Jahre nach dem Ende des Krieges ist das deutsche Volk nach
wie vor geteilt.
Beim Gedenkgottesdienst in der Kreuzkirche zu Dresden sagte Bischof
Hempel im Februar dieses Jahres: "Es lastet, es blutet, dass zwei
deutsche Staaten entstanden sind mit ihrer schweren Grenze. Es
lastet und blutet die Fülle der Grenzen überhaupt. Es
lasten die Waffen."
Vor kurzem wurde in Baltimore in den Vereinigten Staaten eine
Ausstellung "Juden in Deutschland" eröffnet. Die Botschafter
beider deutscher Staaten waren der Einladung gefolgt. Der
gastgebende Präsident der Johns-Hopkins-Universität
begrüßte sie zusammen. Er verwies darauf, daß alle
Deutschen auf dem Boden derselben historischen Entwicklung stehen.
Eine gemeinsame Vergangenheit verknüpfte sie mit einem Band.
Ein solches Band könne eine Freude oder ein Problem sein - es
sei immer eine Quelle der Hoffnung.
Wir Deutschen sind ein Volk und eine Nation. Wir fühlen uns
zusammengehörig, weil wir dieselbe Geschichte durchlebt
haben.
Auch den 8. Mai 1945 haben wir als gemeinsames Schicksal unseres
Volkes erlebt, das uns eint. Wir fühlen uns
zusammengehörig in unserem Willen zum Frieden. Von deutschem
Boden in beiden Staaten sollen Frieden und gute Nachbarschaft mit
allen Ländern ausgehen. Auch andere sollen ihn nicht zur
Gefahr für den Frieden werden lassen.
Die Menschen in Deutschland wollen gemeinsam einen Frieden, der
Gerechtigkeit und Menschenrecht für alle Völker
einschließt, auch für uns das unsrige.
Nicht ein Europa der Mauern kann sich über Grenzen hinweg
versöhnen, sondern ein Kontinent, der seinen Grenzen das
Trennende nimmt. Gerade daran mahnt uns das Ende des Zweiten
Weltkrieges.
Wir haben die Zuversicht, daß der 8. Mai nicht das letzte
Datum unserer Geschichte bleibt, das für alle Deutschen
verbindlich ist. Manche jungen Männer haben sich und uns in
den letzten Monaten gefragt, warum es vierzig Jahre nach Ende des
Krieges zu so lebhaften Auseinandersetzungen über die
Vergangenheit gekommen ist. Warum lebhafter als nach
fünfundzwanzig oder dreißig Jahren? Worin liegt die
innere Notwendigkeit dafür?
Es ist nicht leicht, solche Fragen zu beantworten. Aber wir sollten
die Gründe dafür nicht vornehmlich in äußeren
Einflüssen suchen, obwohl es diese zweifellos auch gegeben
hat.
Vierzig Jahre spielen in der Zeitspanne von Menschenleben und
Völkerschicksalen eine große Rolle.
Auch hier erlauben Sie mir noch einmal einen Blick auf das Alte
Testament, das für jeden Menschen unabhängig von seinem
Glauben tiefe Einsichten aufbewahrt. Dort spielen vierzig Jahre
eine häufig wiederkehrende, eine wesentliche Rolle.
Vierzig Jahre sollte Israel in der Wüste bleiben, bevor der
neue Abschnitt in der Geschichte mit dem Einzug ins
verheißene Land begann.
Vierzig Jahre waren notwendig für einen vollständigen
Wechsel der damals verantwortlichen Vätergeneration.
An anderer Stelle aber (Buch der Richter) wird aufgezeichnet, wie
oft die Erinnerung an erfahrene Hilfe und Rettung nur vierzig Jahre
dauerte. Wenn die Erinnerung abriß, war die Ruhe zu
Ende.
So bedeuten vierzig Jahre stets einen großen Einschnitt. Sie
wirken sich aus im Bewußtsein der Menschen, sei es als Ende
einer dunklen Zeit mit der Zuversicht auf eine neue und gute
Zukunft, sei es als Gefahr des Vergessens und als Warnung vor den
Folgen. Über beides lohnt es sich nachzudenken.
Bei uns ist eine neue Generation in die politische Verantwortung
hereingewachsen. Die Jungen sind nicht verantwortlich für das,
was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was
in der Geschichte daraus wird.
Wir Älteren schulden der Jugend nicht die Erfüllung von
Träumen, sondern Aufrichtigkeit. Wir müssen den
Jüngeren helfen zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die
Erinnerung wachzuhalten. Wir wollen ihnen helfen, sich auf die
geschichtliche Wahrheit nüchtern und ohne Einseitigkeit
einzulassen, ohne Flucht in utopische Heilslehren, aber auch ohne
moralische Überheblichkeit.
Wir lernen aus unserer eigenen Geschichte, wozu der Mensch
fähig ist. Deshalb dürfen wir uns nicht einbilden, wir
seien nun als Menschen anders und besser geworden.
Es gibt keine endgültig errungene moralische Vollkommenheit -
für niemanden und kein Land! Wir haben als Menschen gelernt,
wir bleiben als Menschen gefährdet. Aber wir haben die Kraft,
Gefährdungen immer von neuem zu überwinden.
Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften und
Haß zu schüren.
Die Bitte an die jungen Menschen lautet:
Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und
Haß
gegen andere Menschen,
gegen Russen oder Amerikaner,
gegen Juden oder Türken,
gegen Alternative oder Konservative,
gegen Schwarz oder Weiß.
Lernen Sie miteinander zu leben, nicht gegeneinander.
Lassen Sie auch uns als demokratisch gewählte Politiker dies
immer wieder beherzigen und ein Beispiel geben.
Ehren wir die Freiheit.
Arbeiten wir für den Frieden.
Halten wir uns an das Recht.
Dienen wir unseren inneren Maßstäben der
Gerechtigkeit.
Schauen wir am heutigen 8. Mai, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge.