Wortlaut der Reden
Dr. Wolfgang Ullmann, Bündnis 90/GRÜNE | Rainer Eppelmann, CDU/CSU >> |
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir, die deutschen und nichtdeutschen Bürger und Bürgerinnen der um die im Herbst 1989 frei gewordenen Länder vergrößerten Bundesrepublik, wohnen seitdem in einem Lande, das im Westen an die Niederlande und Frankreich, im Osten an die Föderierte Republik der Tschechen und Slowaken und an die Republik Polen grenzt. So steht es demnach um unsere eigene Geschichte.Sie füllt die Epochen aus zwischen jenem Befreiungskampf der Niederlande, in dem Glaubensfreiheit politische Befreiung ermöglichte, zwischen jener Revolution in Frankreich, in der Menschenrechte nationale Bürgerrechte begründeten, und jenem östlichen Mitteleuropa, das im Prag von 1348 seinen Eintritt in die Universitas jener Lehrenden und Lernenden vollzog, die Europa seit dem 12. Jahrhundert in den Entstehungsort einer neuen Art, einer revolutionären Art von Gesellschaft verwandelt hatte, eine Verwandlung, die Osteuropa ergriff, als sich Polen 1793 als erstes nichtfranzösisches Land Europas eine geschriebene Verfassung gab. Wie irren diejenigen, die glauben, Berlin sei 1871 deutsche Hauptstadt geworden! Berlin wurde dies zwischen 1806 und 1810, als dort nach dem Ende des mittelalterlichen Reiches -- das, Herr Abgeordneter Waigel, niemals eine Hauptstadt besessen hat, auch nicht Aachen; dazu hätten die Römer etwas zu sagen gehabt -- und dem Zusammenbruch des Absolutismus in Preußen diejenigen zusammentrafen, die verstanden hatten, daß erstmalig wieder die politische die zentrale Aufgabe aller Wissenschaft geworden war. Weil die Gründung der Berliner Universität die authentische Antwort auf diese Veränderung der politischen Landkarte war, saßen die Osteuropäer Cieskowsky, Kirejewski, Bakunin, Herzen und andere in den Hörsälen Schleiermachers, Hegels und Schellings, um in den neu eröffneten Diskurs der Völker über ihre Freiheit einzutreten. Das und nichts anderes ist der Anlaß dafür, warum der Deutsche Bundestag, das Parlament der Bürgerinnen und Bürger aller deutschen Länder, heute vor der Aufgabe steht, die Konsequenzen daraus zu ziehen, daß nunmehr endgültig aus der ehemaligen Reichshauptstadt die Bundeshauptstadt Berlin geworden ist. In Berlin endete am Abend des 20. Juli 1944 der letzte Versuch des deutschen Volkes, sich aus eigenen Kräften vom schlimmsten Tyrannen seiner Geschichte zu befreien, von demjenigen, der nach Mordversuchen an anderen Völkern das eigene in seinen Selbstmord hineinziehen wollte. In Berlin wehte im April 1945 die Flagge der siegreichen Sowjetunion, Zeichen dafür, daß dem irregeleiteten deutschen Volk nur noch durch die Niederlage zu helfen war. In Berlin wehten schließlich die Flaggen der Anti-Hitler-Koalition, weil nur die Weltmacht Demokratie die Deutschen befreien konnte, jene Weltmacht, die in Nordamerika begründet und in Frankreich den alten Kontinent erfassend die Geschichte der Neuzeit zur Geschichte der Befreiung, der Emanzipation werden ließ. In Berlin schließlich endete der letzte Versuch auf deutschem Boden, Demokratie durch Diktatur zu ersetzen. Er endete, als am 4. November 1989 diese Diktatur auf dem Alexanderplatz erschüttert und am 9. November 1989 auf der Bornholmer Straße ihres Mauerregimes beraubt wurde. (Beifall bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE, der SPD und der CDU/CSU) All das geschah, und es geschah, wie es geschehen ist, weil alle Versuche, Berlin aus der deutschen Hauptstadt in die Hauptstadt der DDR zu verwandeln, diese Stadt von den übrigen Teilen Deutschlands, seinen Ländern und Menschen zu trennen, am Widerstand der Berliner seit Juni 1953, an der gemeinsamen Überzeugung der deutschen und nichtdeutschen Mitbürger und Mitbürgerinnen und am ebenso selbstverständlichen wie demonstrativen Beistand der freien Welt gescheitert sind. (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Luftbrücke vom August 1948 bis Sommer 1949 wird für immer an diesen Beistand erinnern, eines der wenigen Symbole, die sich vom blutrünstigen Horizont des Wolfsjahrhunderts leuchtend abheben. Aber so war es: Als Ernst Reuter am 9. September 1948 auf der Massenkundgebung vor dem Reichstag an die Völker der Welt appellierte, nach Berlin zu schauen, da blieb sein Ruf nicht ungehört. Sie haben nicht nur nach Berlin geschaut, sondern sie sind hingekommen, um wie John F. Kennedy zu demonstrieren, daß man, wenn es um Freiheit und Demokratie geht, nicht nur in deutschen Landen Berliner sein muß. Der Deutsche Bundestag schickt sich heute an, hieraus die Konsequenzen zu ziehen. Er tut es auf klaren völkerrechtlichen, staats- und verfassungsrechtlichen Grundlagen. Art. 7 des Zwei-plus-Vier-Vertrages vom 12. September 1990 stellt das Ende der Viermächteverantwortung für Berlin fest. Damit aber wurde es möglich, jenen Bundestagsbeschluß, der schon zitiert wurde, zu realisieren, daß der Sitz der leitenden Bundesorgane nach Berlin, in die Hauptstadt Deutschlands, zu verlegen sei. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Abgeordneter Ullmann, entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie unterbreche. Der Abgeordnete Dr. Briefs möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie damit einverstanden? (Zuruf von der CDU/CSU: Gibt es doch nicht!) Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Ja, bitte. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte sehr. Dr. Ulrich Briefs PDS/Linke Liste: Danke, Herr Kollege Ullmann. Ich habe extra bis zu diesem Punkt gewartet, weil ich Sie fragen möchte, ob es Zufall ist, daß Sie in der Darstellung der historischen Funktion Berlins kein Wort über die Hauptstadtfunktion Berlins in der Zeit von 1933 bis 1945 gesagt haben. (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Billiger Jakob!) Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Das ist sehr wohl überlegt. Was da geschehen ist, ist bekannt. Was ich hier in den Mittelpunkt zu stellen hatte, ist sehr viel weniger bekannt. (Beifall bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE, der SPD und der CDU/CSU) Das gleiche gilt für die Berlin-Erklärung, die am 26. Mai 1952 im Zusammenhang mit dem Deutschland-Vertrag abgegeben wurde. Sie begründet die besonderen Verpflichtungen des Bundes gegenüber Berlin mit der besonderen Rolle, die Berlin für eine Selbstbehauptung der freien Welt gespielt hat und ferner zu spielen berufen ist, und vor allem damit, daß Berlin bestimmt ist, die Hauptstadt eines freien und wiedervereinigten Deutschland zu werden. Ich stehe nicht an, hierauf Leitsatz 4 des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 31. Juli 1973 anzuwenden, wonach kein Verfassungsorgan der Bundesrepublik es aufgeben darf, auf die Erreichung des Zieles der Einheit hinzuwirken, und alles zu unterlassen hat, was die Wiedervereinigung vereiteln würde. Was bedeutet das für Bonn, die Stadt und die Bewohner der ganzen Region? Es bedeutet für sie, daß gerade sie am besten verstehen können, was jetzt in der dereinstigen DDR an politischen, sozialen und biographischen Veränderungen vorgeht. Nichts bleibt so, wie es einmal war. Ein neues Zeitalter hat begonnen, eines, das unsere kühnsten Phantasien sich nicht ausdenken konnten. Wir haben keine Alternativen, auch nicht dazu, alle Geburtswehen dieses lebensnotwendigen Neuanfangs auszuhalten. Und dessen darf man hier am Rhein gewiß sein: Nicht mehr aufzulöschen aus der deutschen Geschichte ist, was von hier aus für eine neue, nicht mehr feindselige Nachbarschaft zwischen Frankreich und Deutschland getan und damit für die europäische Integration geleistet worden ist. Welche institutionellen Konsequenzen das im Fortgang des europäischen Einigungsprozesses haben wird, ist noch gar nicht absehbar. Aber das es solche Konsequenzen haben wird, kann als gewiß vorausgesetzt werden. Ich habe Sie gestern, meine Damen und Herren, darauf aufmerksam gemacht, welche Konsequenzen Ihre Ablehnung des Gesetzentwurfes zum Volksentscheid haben würde. Dieses Parlament hat nun die alleinige Verantwortung dafür übernommen, wie jener Art. 146 Abs. 2 unserer Verfassung aussehen wird, in dem es um Parlaments- und Regierungssitz nach der deutschen Vereinigung geht. Ob er in der geschriebenen Verfassung steht oder nicht, er wird jedenfalls ein Teil unserer Verfassungswirklichkeit sein. Von Ihnen aber hängt es ab, ob dieser Artikel nun nach der militärischen auch die politische und kulturelle Mauer abträgt und damit beiträgt, die Mauer in den Köpfen zu beseitigen. Wir alle wissen darum, meine Damen und Herren, daß von der heutigen Abstimmung sehr viel für die künftige Glaubwürdigkeit dieses Hohen Hauses abhängt. Ich danke Ihnen. (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der PDS/Linke Liste) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat der Abgeordnete Eppelmann. |