Das gilt für das Konzept insgesamt. Wie ein Lauffeuer hat es sich verbreitet, seit die Universität Tübingen im Sommer 2002 anfing, eine speziell auf Kinder ausgerichtete Vorlesungsreihe abzuhalten. In diesem Wintersemester bieten bundesweit bereits 42 Universitäten und Hochschulen derartige Kinder-Unis an. Die Resonanz ist enorm: Beispielsweise haben an der Universität in Frankfurt am Main 3.500 Dreikäsehochs sieben Vorlesungen gelauscht. Eine Hörerzahl, die in Berlin spielend übertroffen werden dürfte: In acht Vorträgen werden Hochschuldozenten versuchen, unter Titeln wie "Warum können tonnenschwere Flugzeuge fliegen?" oder "Warum sind wir schlauer als Roboter?" Grundprobleme ihrer Fachrichtungen kindgerecht aufzubereiten.
"Wir wollen Acht- bis Zwölfjährigen die Universität zugänglich machen", erklärt die HU-Pressereferentin Anke Assig: "Sie sollen erleben, wie ein Hörsaal aussieht und eine Vorlesung abläuft, und erfahren, mit welchen Inhalten sich Wissenschaft beschäftigt." Auch Gerhardt hofft, die Kleinen für seine Disziplin zu interessieren: "Es wäre schön, wenn die Kinder den Eindruck gewinnen, dass hier ernsthaft nachgedacht wird, denn die Universität muss sich frühzeitig um Nachwuchs bemühen. Durch meinen Vortrag sollen die Kinder eine erste Vorstellung von Philosophie bekommen und begreifen, dass sie ihr Leben angehen könnte." Daher hat er als Thema seiner Einführungsvorlesung die Ursprungsfrage jeder Wissenschaft ausgewählt: "Warum wollen wir eigentlich etwas wissen?" Und seinen Redetext mit erfahrenen Müttern abgestimmt: "Ich musste lernen, ein Wort wie ‚Sachverhalt' zu vermeiden, weil Kinder in diesem Alter es nicht verstehen."
Für die Zielgruppe steht die Neugier auf Unbekanntes im Vordergrund. Der elfjährige Juri Effenberg hat einen Zeitschriftenartikel über Kinder-Unis gelesen und selbst seine Eltern aufgefordert, diese Veranstaltung herauszusuchen. Andere kommen im Klassenverband: Wie Marco, Dario, Leonard und Jan aus der 5a der Münchhausen-Grundschule im Bezirk Reinickendorf. Sie freuen sich darauf, "etwas Neues auszuprobieren" und erwarten, "danach mehr zu wissen". Mit dem Begriff Philosophie können sie noch nichts anfangen. Dario fragt stattdessen: "Kann ich vom Professor ein Autogramm bekommen?" Ihre Lehrerin Claudia Junge verspricht sich von dem Ausflug, dass ihre Schützlinge "eine andere Form des Lernens kennen lernen: die Schule für Erwachsene." Sie hat ihre Gruppe im Voraus für vier Termine angemeldet. Auf die Vorlesungen über Flugzeuge und Roboter sind ihre Schüler besonders gespannt, korrespondieren sie doch mit ihren Berufswünschen: Dario will "Rennautotechniker" werden, Jan "zum FBI".
Endlich geht es los. Unter noch härteren Bedingungen, als sie an den überlaufenen deutschen Hochschulen ohnehin üblich sind: Papierflieger segeln durch den Saal, überall wird getuschelt und gekichert. Nur mit einer Glocke kann Gerhardt sich Gehör verschaffen. Eingangs schmeichelt er seinen Zuhörern: "Die Wissenschaft entscheidet über die Zukunft der menschlichen Gesellschaft. Aber die Zukunft seid Ihr!" Nach diesen leicht pathetischen Worten geht er umstandslos zum Thema über: "Ihr habt alle viel Wissen. Doch man kann es gar nicht sehen: Euer Wissen ist allein in Eurem Kopf." Um dann, in gut akademischer Manier, fünf Thesen aufzustellen. Gerhardt redet über die Notwendigkeit sich zu verständigen, den Anspruch des Menschen, sein Leben selbst zu gestalten, und die prinzipielle Unerschöpflichkeit des Wissens: "Wenn man viel weiß, nimmt man keinem anderen etwas weg." Seine Ausführungen münden in den moralischen Appell, sich weiter um die Mehrung des Wissens zu bemühen: Allein dies ermögliche Fortschritt.
Jeden seiner Kernsätze läutet er mit der Glocke ein. Es hilft wenig: Von Minute zu Minute wird die Kinderschar unruhiger, die Geräuschkulisse lauter. Trotz Mikrofon ist der Dozent nur bruchstückhaft zu hören. Resigniert schließt er nach einer Dreiviertelstunde mit der Bemerkung: "Noch nie musste ich so schwer arbeiten, noch nie wollten mir so viele nicht zuhören." Da hat er sein Publikum unterschätzt: Als er auffordert, Fragen zu stellen, stürmen Dutzende von Kids die Rednertribüne. Von ihnen umringt, antwortet Gerhardt geduldig eine halbe Stunde lang ihrer Wissbegier. Dabei kommt er rasch auf aktuelle Debatten des Wissenschaftsbetriebs zu sprechen: Die Frage, ob auch Tiere über Wissen verfügen, wird derzeit von Verhaltensforschern, Neurobiologen und Philosophen ausgiebig diskutiert.
Denn der Eindruck einer undisziplinierten Meute trügt: Am meisten klagen die Kinder selbst über den chaotischen Ablauf der Vorlesung. Sie hat allen Reinickendorfer Schülern "sehr gut" gefallen, doch Jan bedauert, er habe akustisch "fast nichts verstanden". Und Dario ärgert sich: "Die mit Papierfliegern warfen, haben genervt!" Auch Juri findet es "schade, dass viele so laut waren". Seiner Begeisterung tut das aber keinen Abbruch: Wie die Grundschulklasse 5a will er "auf jeden Fall" zu den übrigen sieben Vorträgen wiederkommen. Die Organisatoren werden sich also etwas einfallen lassen müssen, um den Ansturm zu kanalisieren. "Als wir den Eingang absperren wollten, haben uns Eltern, Lehrer und Kinder einfach beiseite gedrängt", seufzt Pressereferentin Assig.
Unwiderstehlich anziehend scheint vor allem der Event-Charakter der Veranstaltung zu sein. Das belegen Studien aus Tübingen, wo die Kinder-Uni selbst bereits Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geworden ist. Am höchsten bewerteten die befragten Kinder die "Interessantheit", den Spaß und die Verständlichkeit der Vorträge; dagegen spielte der Wissenserwerb kaum eine Rolle. Um dies zu ändern, beschreitet man in Berlin neue Wege. Im Anschluss an die Vorlesungen richtet das Kindermuseum Labyrinth Workshops aus, die das Gehörte vertiefen sollen. Sie sind insbesondere für Kinder aus sozial benachteiligten Familien gedacht, die aus eigenem Antrieb kaum einen Hörsaal betreten würden: Damit aus schwer zu bändigenden Rackern hoch motivierte Studenten von morgen werden.