Solidarität hat keine Konjunktur. Die Sozialpolitik wird für allerlei ökonomische Krisenerscheinungen verantwortlich gemacht; wer sich für die Unterstützung sozial Schwächerer einsetzt, gilt als Traditionalist. Dazu bekennt sich der "Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge" (DV). Im Jahre 1880 - während der Industrialisierung mit ihren sozialen Folgeerscheinungen - als "Deutscher Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit" gegründet, versteht sich der DV nicht zuletzt als Lobby der sozialen Arbeit. Sein Präsident ist Konrad Deufel, Manfred Wolf ist für die Verlagsarbeit des DV zuständig.
Entsprechend dem Selbstverständnis des DV wird in dem Sammelband die Grundlagen des Sozialstaates verteidigt. Dabei herausgekommen ist ein Lesebuch, das in wohlfahrtsstaatliche Probleme und Konzepte weitgehend allgemeinverständlich einführt.
Der Bundespräsident wurde für ein Vorwort gewonnen, das er für eine klare Stellungnahme pro Sozialstaat nutzt. Geschichtsbewusst und ganz im Sinne der Herausgeber äußert sich Johannes Rau über den Stellenwert des Sozialstaates: "Über Bismarck hinaus, aber nicht hinter Bismarck zurück". Sein Plädoyer für die Sozialstaatsbindung in Artikel 20 Grundgesetz untermauert Rau mit dem Hinweis, dass die Krise der Sozialpolitik nicht zuletzt aus der Finanzierung der deutschen Einheit über die Sozialkassen resultiere.
Das lesenswerte Kompendium versammelt über 50 Beiträge. Neben Politikern schreiben zahlreiche renommierte Fachwissenschaftler, die sich überwiegend um Lesbarkeit bemühen. Weiter zu Wort kommen Prominente aus Gesellschaft (unter anderen Ellis Huber, Friedrich Schorlemmer) und Kirche (Bischof Homeyer Bischof Huber, Bischöfin Käßmann, Kardinal Lehmann). Bereits die Zahl der Beiträge schließt aus, sie auch nur annähernd inhaltlich zu würdigen. Dies begründet die Beschränkung auf die Stellungnahmen von verantwortlichen Politikerinnen und Politikern.
Eine Besonderheit unseres Parteiensystems ist, dass es mit CDU/CSU und SPD traditionell zwei Sozialstaatsparteien gibt. So äußern sich auch hier eine Reihe ihrer Vertreter, an der Spitze der Sozialdemokraten Gerhard Schröder. Der Bundeskanzler und SPD-Vorsitzende verweist auf bereits vollzogene und noch geplante Umbauschritte im Sinne des von ihm propagierten "Dritten Weges" über soziale Gerechtigkeit.
Das Stichwort "Familie" vertritt mit einem philosophisch-programmatischen Beitrag Familienministerin Renate Schmidt. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck plädiert für einen neuen Gesellschaftsvertrag, der Individualität und eine erneuerte Kultur der Solidarität ebenso umfassen soll wie ökologische und globale Aspekte.
Ebenso prominent vertreten sind die Christdemokraten. Deren Vorsitzende trägt Überlegungen zum Stichwort "Freiheit" bei, der im Gegensatz zu "Gleichheit" verstanden wird. Ausgehend von der Unfreiheit in der DDR fordert Angela Merkel - wie auch an anderer Stelle Baden-Württembergs Ministerpräsident Erwin Teufel - sozialpolitische Wahlfreiheit, persönliche Verantwortung, Selbsthilfe, die Stärkung des Individuums und mehr Wettbewerb unter den Trägern sozialer Leistungen.
Interessant im Vergleich dazu der Beitrag von Merkels Vorgänger und jetzigem Stellvertreter im Fraktionsvorsitz. Wolfgang Schäuble hält "Gleichberechtigung" für den "Schlüssel zu sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit". In einem ideengeschichtlichen Essay spürt Schäuble dem Bedeutungsgehalt des Begriffes nach.
Die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth schreibt aus der Sicht eines Kindes zur "Kindheit", dabei auf mancherlei Gefährdungen unseres Nachwuchses eingehend. Norbert Blüm, ehemaliger Arbeits- und Sozialminister, erläutert den "Generationenvertrag" für "die Nachwachsenden". Zutreffend verweist er auf Gefahren der jetzt viel propagierten Kapitaldeckung in der Alterssicherung.
Die Lektüre der angesprochenen Beiträge lässt unterschiedliche Gewichtungen von "Staat" oder "Markt" zwischen den großen Volk- und Sozialstaatsparteien erkennen. Weiter fällt auf: Vor allem "frühere" Politiker äußern sich deutlicher, offener und zorniger über gegenwärtige sozialpolitische Entwicklungen. So auch Heiner Geißler, der einen zusammenfassenden Beitrag zum Stichwort "Sozialstaat" beitrug. Er bedauert eine schleichende Entsolidarisierung, die er mit der Verletzung der Menschenwürde gleichsetzt. Die Ursache dafür sieht er in der "Macht des Geldes, des internationalen Kapitals. Die Sozialbeziehungen werden monetarisiert."
Die Lektüre des Bandes ist gerade auch Kritikern des Sozialstaat zu empfehlen.
Konrad Deufel/Manfred Wolf (Hrsg.)
Ende der Solidarität?
Die Zukunft des Sozialstaats.
Herder Verlag, Freiburg/Br. 2003; 336 S., 14,90 Euro