Ein Jahr vor seinem Tod, Ende 2002, legte John Rawls einen Neuentwurf seiner Gerechtigkeitskonzeption im Rahmen des politischen Liberalismus vor. Der Titel greift weit zurück - man könnte meinen - an seine Anfänge. Mit "Justice as Fairness" betitelte er zwei programmatische Aufsätze in den Jahren 1957/58. Seine Theorie der Gerechtigkeit revolutionierte dann 1971 die politische Philosophie.
Seit Marx und Nietzsche interpretierte man das politische Geschehen als primär an Macht und Interessen orientiert. Im letzten Drittel des 20. Jahrhundert wächst dagegen wieder das Interesse an den ethischen Grundlagen der Politik. Rawls fragt nach einer rationalen Begründung des Politischen und greift dazu auf den Kontraktualismus der Aufklärung zurück, eine seit dem 19. Jahrhundert aufgelassene Tradition:
Auf welche Grundsätze würden sich Menschen einigen, wenn sie die eigenen sozialen und weltanschaulichen Interessen nicht kennen und wenn sie sich in einem Zustand der gegenseitigen Freiheit und Gleichheit befänden? Dabei unterstellt Rawls den Menschen einen Sinn für den eigenen Vorteil wie auch einen für Gerechtigkeit und Moral: Sie wollen unter Bedingungen der sozialen Kooperation nicht nur Vorteile für sich selbst, sondern gegenseitigen Nutzen. Diese Gegenseitigkeit ist die Grundlage der Fairness.
Nach rationalen Gesichtspunkten einigen sich die Menschen nach Rawls unter Absehung ihrer Interessen, Neigungen und Weltanschauungen auf Grundsätze gleicher Freiheiten, auf Chancengleichheit bezüglich des Zugangs zu Ämtern und Positionen sowie auf den Kern des Differenzprinzips: Danach sollen soziale und ökonomische Ungleichheiten den Benachteiligten einen möglichst großen Nutzen bringen.
Vor allem von diesem philosophischen Ideal eines Liberalismus, mit dem er noch an die Tradition von Locke und Kant anschließt, nimmt Rawls später Abschied. Politischer Liberalismus, wie ihn sein zweites Hauptwerk 1993 konzipiert, will gerade kein philosophischer sein; er will vielmehr auf alle metaphysische Begründung verzichten. Insofern tritt die umfängliche rationale Ableitung der Gerechtigkeitsgrundsätze in den Hintergrund.
Rawls fragt nicht mehr nach dem richtigen philosophischen Fundament, das einem politischen System eine gerechte und stabile Grundstruktur verleiht. Die soziale Frage verblasst in den späten 70er-Jahren. Doch die ideologische Konfrontation zwischen den Weltanschauungen nimmt keineswegs ab, sondern verschärft sich einerseits durch die weltweite Wiederkehr politischer Ansprüche der Religionen und andererseits durch eine intensivierte Individualisierung.
Um diese Konflikte zu entschärfen, konzipiert Rawls einen politisch übergreifenden Konsens über Grundfragen der Gerechtigkeit, aus dem alle weltanschaulichen Vorstellungen des Guten ausgeklammert werden, auch die liberalen. Insofern verzichtet sein Liberalismus auf philosophische Grundlagen, sondern konzentriert sich auf Gerechtigkeitsfragen.
Im Neuentwurf greift Rawls wieder stärker als im "Politischen Liberalismus" auf die in "Eine Theorie der Gerechtigkeit" entwickelte rationale Ableitung der Gerechtigkeitsgrundsätze zurück. Weil die moderne Gesellschaft vom Faktum des Pluralismus geprägt wird, muss sie Fragen der Gerechtigkeit von den unterschiedlichen Vorstellungen des Guten strikt trennen. Um zur Kooperation im übergreifenden Konsens zu gelangen, müssen völlig gegensätzliche Weltanschauungen von völlig unterschiedlichen Vorstellungen des Guten aus zu einer gemeinsamen Gerechtigkeitskonzeption gelangen. Solche Weltanschauungen gelten Rawls als vernünftig.
Die Bürger sollen sich mit der Frage nach rationalen Gerechtigkeitsgrundsätzen darüber klar werden, was ihre grundlegenden Interessen sind. Dazu müssen sie von ihren unmittelbaren Interessen absehen und nach dem für alle Vernünftigen fragen - eine eminente Herausforderung des Urteilsvermögens. Im Neuentwurf betont Rawls daher diese Bürde des Urteilens, die angesichts des Pluralismus unvermeidbar ist, um politisch zu kooperieren. Sie prägt das Ideal des vernünftigen Bürgers.
Damit greift Rawls auf die Vorstellung der wohlgeordneten Gesellschaft zurück, enthebt sie aber ihres utopischen Charakters. Denn der Bürger kann den öffentlichen Vernunftgebrauch, den die demokratische Gesellschaft braucht, durchaus ausprobieren, einüben und realisieren. Daher stellen beispielsweise Gedanken- und Gewissensfreiheit Bedingungen her, um Illusionen und Selbsttäuschungen zu bekämpfen und in der Öffentlichkeit den Ideologien zu widerstreiten, die den Menschen ja vorschreiben wollen, wie sie zu denken haben. Der Neuentwurf verbindet die rationalen Gerechtigkeitsgrundsätze aus "Eine Theorie der Gerechtigkeit" mit dem übergreifenden Konsens des "Politischen Liberalismus".
Der Neuentwurf stellt nicht nur auf vergleichsweise knappem Raum das Gesamtkonzept von Rawls auf dem letzten Stand dar. Insofern ist er für jeden empfehlenswert, der sich einen Überblick bei Rawls verschaffen will. Ein drittes Hauptwerk ist der Neuentwurf indes kaum. Gegenüber dem Politischen Liberalismus sagt er nicht soviel Neues.
John Rawls
Gerechtigkeit als Fairness - Ein Neuentwurf.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2003; 316 S., 24,90 Euro