Aber warum ist das so? Wieso Afrika? Auch diese Fragen werden uns Chronisten häufig gestellt, und die Antworten zumeist gleich mitgeliefert. Die einen glauben, die korrupten, unfähigen Afrikaner seien ganz allein Schuld an ihrem Elend, die anderen machen böse Außenmächte dafür verantwortlich, die Weltbank, den Neokolonialismus, die unfaire globale Handelsordnung. Beide Erklärungsversuche enthalten einen Wahrheitskern - und führen zugleich in die Irre. Denn die afrikanischen Realitäten sind komplizierter, vielschichtiger: Nicht überall herrschen Krieg, Hunger und Massenelend, und dort, wo von einer chronischen Krise gesprochen werden kann, hat sie überwiegend endogene, aber immer auch exogene Ursachen, die sich wechselseitig verstärken.
Wer die Probleme Afrikas verstehen will, muss sich zunächst seine Ausgangslage vor Augen halten. Der Kontinent zählt nicht zu den Weltregionen, die von der Natur beschenkt wurden. Seine Bewohner sind extremen Klimaverhältnissen ausgesetzt, fruchtbares Land ist rar, Wasser knapp. Kein anderer Erdteil wird so oft von Naturkatastrophen heimgesucht, von Buschfeuern, Insektenplagen und biblischen Fluten. Im Tropengürtel erschweren Infektionskrankheiten das Leben, Malaria, Bilharziose, Gelbfieber, Flussblindheit; entsprechend ist der Gesundheitszustand.
Zur Tyrannei der Natur kommt der Fluch der Geographie. Die meisten Staaten Afrikas liegen im Binnenland, sie sind abgeschnitten von den Küsten und trei-ben wie große unzugängliche Inseln durch das Innere des Kontinents. Der Ökonom Ricardo Hausmann spricht von der "Falle des Raumes". Der miserable Zu-stand der Infrastruktur steigert die ohnehin exorbitanten Transportkosten. Personen und Güter müssen zahlreiche Grenzen überwinden, künstliche, oft widersinnige Demarkationslinien, die europäische Kolonialmächte einst in den Kontinent geschnitten haben. Afrika wurde regelrecht "balkanisiert", seine Völker Jahrhunderte lang ausgeplündert, ja ausgeblutet. Europäer (und Araber!) lieferten sich einen Wettlauf um Gold und Diamanten, Kautschuk und Sisal, Elfenbein, Tropenhölzer und Gewürze. Und um Menschen.
Die Globalisierung Afrikas, seine gewaltsame Integration in das moderne Weltsystem, begann mit dem Sklavenhandel. 50 Millionen Afrikaner wurden verschleppt oder bei der gnadenlosen Menschenjagd umgebracht, ein historisches Trauma, das im kollektiven Gedächtnis der Afrikaner als Bedrohungs- und Minderwertigkeitsgefühl fortwirkt. Der Kolonialismus hat ihre traditionellen Produktionsweisen, Sozialstrukturen und Werteordnungen zerstört und sie durch ein Zwangssystem ersetzt, das ausschließlich europäische Wirtschaftsbegierden stillte.
Nach 100 Jahren Plünderei zogen die Kolonialherren ab. Sie hinterließen zentralistische, kaum funktionsfähige Staatshülsen und zerrissene Völker, die für den globalen Wettbewerb nicht gerüstet waren. Die Grundzüge ihrer Raubwirtschaft aber blieben erhalten; sie war "monokulturell" auf den Export von Bodenschätzen und Agrarerzeugnissen ausgerichtet. Die gerade selbständig gewordenen Staaten blieben auf Gedeih und Verderb von ein oder zwei Primärgütern abhängig. Die Elfenbeinküste exportiert zum Beispiel überwiegend Kakao, Niger hauptsächlich Uran, Botsuana fast nur Diamanten. Eine verhängnisvolle Einseitigkeit. Denn im Laufe der Jahre sollten sich die "terms of trade" verschlechtern, also das Austauschverhältnis von Importen und Exporten: Die Afrikaner verdienen aufgrund tendenziell fallender Weltmarktpreise für Rohstoffe und landwirtschaftliche Produkte immer weniger und müssen für ihre Einfuhren - Industriegüter, Fertigwaren, Energie - immer mehr hinblättern.
Nun lässt sich zurecht einwenden, dass die Afrikaner in bald 50 Jahren Unabhängigkeit genug Zeit gehabt hätten, ihre Volkswirtschaften zu diversifizieren, um die ungleichen Tauschverhältnisse abzumildern. Genau an diesem Punkt, jenseits der naturbedingten und geographischen Nachteile, der historischen
Erblasten und strukturellen Defizite, beginnt die Diskussion über die hausgemachten Ursachen der Misere.
Die jungen Staaten Afrikas setzten auf bedingungslose Modernisierung nach kapitalistischem oder realsozialistischem Modell, auf schwere Industrie und schnelle Urbanisierung, und die Entwicklungsberater aus dem Norden flüsterten ihnen die aberwitzigsten Prestigeprojekte ein, die bald als "weiße Elefanten", als Investitionsruinen, im Busch herumstanden. Die Landwirtschaft hingegen wurde in fast allen Staaten des postkolonialen Afrika sträflich vernachlässigt - und damit die Ernährungssicherung. Allmählich beginnt man zu begreifen, dass die aufgepfropfte Modernisierung auch deshalb gescheitert ist, weil es am gesellschaftlichen Unterbau und an den mentalen Voraussetzungen fehlte.
Die afrikanischen Eliten machten genau dort weiter, wo die Kolonialherren aufgehört hatten: Sie übernahmen ihre Positionen und Privilegien, die Schreibtische und Swimmingpools, die Seidenbetten und die Dienerschaft. Frantz Fanon, der Vordenker der antikolonialen Revolution, hat diesen Rollentausch mit der Wendung "masques blancs, peau noire" beschrieben: Weiße Masken auf schwarzer Haut. Er warnte vor der fatalen Umwandlung der Fremdausbeutung in Selbstbedienung - und sollte Recht behalten.
An der Spitze der Machtcliquen thronen die "big men", die großen, starken Männer. Ihr oberstes Ziel, der Machterhalt, wird durch ein ausgeklügeltes Patronagewesen gesichert, durch ein System zur Verteilung der ökonomischen Besitzstände, das die Loyalität der parasitären Partei- und Staatsklassen erkauft und in der Regel tribalistischen Prioritäten folgt: der erweiterte Familienclan des "big man", die Heimatregion, die Notabeln der eigenen Ethnie werden zuerst mit Posten und Pfründen beschenkt. Das führt zu einer absurd aufgeblähten Exekutive, zu vielköpfigen Parlamenten und zu einem Verwaltungsapparat, für den die Bezeichnung Wasserkopf ein Euphemismus ist. Es gibt Kabinette, denen 70 und noch mehr Minister und Vize angehören, Ämter und Behörden, die nur auf dem Papier existieren, Gehälter, die jahrelang an Phantombeamte gezahlt werden.
Der Zaire, heute wieder Kongo genannt, liefert ein Paradebeispiel: Vater Staat sorgt nicht mehr für seine Kinder, er ist zu schwach, und die herrschende Klasse stützt ihre Macht in erster Linie auf Repression, auf Armee, Polizei und Paramilitärs. Sobald sie den Sicherheitsapparat nicht mehr finanzieren kann, weil die Staatskassen leer sind, kommt es zur Revolte, zum Staatsstreich oder zu einem Bürgerkrieg. Kaum ruhen die Waffen, geht das Monopoly um politische Macht und ökonomische Ressourcen wieder von vorne los - ein Präsidentenwechsel ist in der Regel also nichts anderes als ein Parasitenwechsel.
Die Kleptokraten Afrikas konnten weiterregieren, solange sie einem der Lager im Kalten Krieg den ideologischen Fahneneid schworen; dafür erhielten sie fürstliche Entwicklungsgeschenke, vor allem in Form von Waffen. So besehen haben Moskau und Washington, Paris und Peking die Selbstzerstörung Afrikas kräftig alimentiert. Als nach 1989 das "Treuegeld" allmählich ausblieb, krachten die postkolonialen Staatsattrappen wie Kartenhäuser in sich zusammen. Und aus den Ruinen von Somalia, Kongo oder Liberia stiegen alte Chaosmächte und neue Gewaltakteure auf, Warlords, Kindersoldaten und Stammesmilizen.
Im Oktober 2000 taxierte Stefan Mair von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik zusammen mit fünf namhaften deutschen Afrika-Experten die Zu-kunftsaussichten des Kontinents. In die Kategorie der "emerging economies" fielen nur zwei Zwergstaaten, die Seychellen und Mauritius; acht Staaten - Ghana, Kap Verde, Gabun, Äquatorial-Guinea, Botsuana, Namibia, Lesotho und Südafrika - wurden zu den potentiellen Reformländern gezählt. Der Rest habe geringe oder keine Entwicklungschancen; 13 Staaten seien beim Stand der Dinge ohne jede Perspektive, darunter Somalia, Sierra Leone, Niger, Tschad, Burundi, Kongo, Malawi, Madagaskar. Das niederschmetternde Fazit: "Entwicklung im Sinne nachhaltiger Armutsreduzierung wird für die meisten Länder Afrikas auch in den nächsten 30 bis 50 Jahren nicht möglich sein."
Die Afrikaner halten sich, wie Milliarden von Menschen in der so genannten Dritten Welt, in der informellen Ökonomie über Wasser, in der Schatten- oder Parallelwirtschaft, die keine Statistik erfasst. Die Großmutter verkauft Feldfrüchte, der Sohn flickt Schuhe, Mutter geht zu den Reichen bügeln, der Vater ist Wanderarbeiter, der Onkel bewacht ein Hotel in der Stadt; die erweiterte Familie wirft alle Einkünfte zusammen, teilt, bringt ihre Mitglieder irgendwie durch und entwickelt dabei einen unglaublichen Erfindungsreichtum. Aber es reicht meistens nicht, um der nächsten Generation ein besseres Leben zu sichern.
Es gibt einen Hoffnungsschimmer namens Nepad. Hinter diesem Kürzel verbirgt sich ein kontinentales Wiederaufbauprogramm nach dem Modell des Marshall-Plans, das Südafrikas Präsident Thabo Mbeki angeregt hat: Die Afrikaner mobilisieren ihre Selbsthilfekräfte und bringen die politischen und wirtschaftlichen Kurskorrekturen auf den Weg; der Norden verstärkt die finanzielle Zusammenarbeit, erlässt die erdrückenden Schulden und schafft schrittweise jene Handelsstrukturen ab, die den Süden marginalisieren.
Manche Präsidenten Afrikas scheinen allerdings den einen oder anderen ihrer hehren Vorsätze schon wieder vergessen zu haben. Demokratie wahren? Men-schenrechte schützen? Zum Staatsterroristen Robert Mugabe, der Simbabwe allmählich kaputt regiert, hat man von den meisten kein kritisches Wort gehört.
Bartholomäus Grill ist Afrika-Korrespondent der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit".