Das in acht Kapitel untergliederte Buch beschreibt zunächst die Problematik geordneten Zusammenlebens auf engstem Raum in Kalkutta und wendet sich dann der Schilderung mehr oder weniger zufälliger Begegnungen mit Einwohnern zu, anhand derer soziale Probleme veranschaulicht werden, mit denen Megastädte weltweit, insbesondere aber Kalkutta, konfrontiert sind. Darüber hinaus spricht Schweizer Fragen der politischen Entwicklung Kalkuttas und Bengalens seit der Kolonialzeit an und betont die strukturellen Zwänge als Motor dieser Entwicklung im Kontext gesellschaftlichen Wandels.
Auch die Funktion der Megastadt Kalkutta als kultureller Mikrokosmos seit der Zeit der Kolonialherrschaft wird erörtert, bevor Schweizer schließlich Kalkutta als Sinnbild der Megastadt mit Delhi, Bombay (heute: Mumbai) und Bangalore vergleicht und Gemeinsamkeiten und Unterschiede innerhalb der Kategorie "Megastadt" aufzuzeigen sucht. Die größte Stärke des Buches besteht in seinem Einfühlungsvermögen für das alltägliche Leben in den indischen Megastädten und in seiner Sympathie für die Art und Weise, in der die Menschen ihr Leben trotz seiner Einfachheit mit Würde gestalten. Obwohl das Buch nicht das literarische Niveau der Erzählungen eines V.S. Naipaul oder eines Günter Grass über Kalkutta erreicht, bietet es eine willkommene Abwechslung zum unnachgiebigen Pessimismus der beiden Nobelpreisträger.
In zwei Punkten hätte der Autor andererseits seine Ausführungen noch vertiefen sollen. Das Thema Kultur dominiert über weite Strecken das Werk. Der Gesichtspunkt der Industriewirtschaft, welche diesen Megastädten Indiens gerade ihre Vitalität verleiht, bleibt hingegen weitgehend ausgespart. Es ist schließlich das Phänomen Megastädte, welches eng mit dem heutzutage viel beschworenen wirtschaftlichen Aufstieg von Teilen Indiens einhergeht. So bleibt die Frage, wie genau das wirtschaftliche Establishment und die Kultur miteinander verknüpft sind, unbeantwortet.
Dem Leser wird sich bei der Lektüre von Schweizers ansonsten lesenswertem Werk eine weitere mit der Politik eng verbundene Frage stellen. Schließlich haben Demokratie und die politische Mobilisierung vormals marginalisierter Bevölkerungsgruppen zur Herausbildung indigener Wurzeln für die unmittelbar nach der Unabhängigkeit noch fremden Institutionen wie Verfassung und Rechtsstaatlichkeit maßgeblich beigetragen. Diesem überaus wichtigen Komplex trägt die kurze Analyse der Unterschiede im Wahlverhalten von urbaner und ländlicher Bevölkerung, sowie der gewalttätigen Aufstände durch Maoisten jedoch nicht hinreichend Rechnung.
Gerhard Schweizer
Metropole - Moloch - Mythos. Eine Reise durch die Megastädte Indiens.
Klett-Cotta. Suttgart 2004; 272 S., 22,- Euro
Professor Subrata K. Mitra ist durch seine lange Lehrtätigkeit am Südasien-Institut der Universität Heidelberg in Deutschland inzwischen ebenso zu Hause wie in seiner indischen Heimat.