Immer wieder geht es darum: Um Nähe und Distanz. Ist "Meines Vaters Land" auch das Land der Tochter? Wie wäre es mir ergangen unter Umständen, die ich glücklicherweise nicht oder nur als Kind, und damit von schweren Gewissensentscheidungen befreit, erlebt habe? Erleichtert stellt sie fest: "Das Einzige, was ich aushalten musste, waren diese grässlichen Rotkäppchen-Kleider, die nach Kriegsende aus den Hakenkreuzfahnen genäht wurden. Ich habe mich nie etwas trauen müssen, wenn ich denn dagegen gewesen wäre. Wäre ich?"
Wibke Bruhns erzählt die Geschichte ihrer, der Kaufmannsfamilie Klamroth aus Halberstadt, nicht mit dem Gestus der Verurteilung; für ein nationalistisches Pathos im Ersten Weltkrieg zum Beispiel, das bereitwillig auch die eigenen Kinder opfert. Oder für die Bereitschaft der Eltern, sich in den Dienst von NSDAP und anderen NS-Organisationen zu stellen. Es geht darum zu verstehen. Das schließt das Unverständnis und die Ablehnung nicht aus, mit der sie auf Ereignisse in ihrer "Sippe" reagiert: "Sind die verrückt? Was ist das für eine grenzenlose Hybris, die Deutschland und die Deutschen über den Tod der Söhne stellt?" Fragen an den Großvater, der ohne jedes Entsetzen vom Heldentod seines Neffen im Ersten Weltkrieg berichtet.
Die Hauptperson ist der Vater: Hans Georg Klamroth, Major und Abwehroffizier im Oberkommando der Wehrmacht, als er in die Pläne der Attentäter des 20. Juli 1944 eingeweiht und sie nicht verraten wird. Nicht als Mittäter, sondern als Mitwisser starb er am 26. August 1944 in Plötzensee, erhängt "wie Schlachtvieh", so wollte es Hitler. An diesen HG, so nennt sie ihn, tastet sich Wibke Bruhns heran, denn sie kennt ihn nicht wirklich. Ein Jahr nach ihrer Geburt begann der Zweite Weltkrieg und damit die Zeit seiner Abwesenheit, nur unterbrochen von Kurzbesuchen. 1979 entdeckt sie den Vater in einer Fernsehdokumentation über den 20. Juli, ausgezehrt im Saal des Volksgerichtshofes sitzend. Eine Szene, die sie nicht loslässt: "Aber ich erkenne mich in ihm - seine Augen sind meine Augen. Ich wäre nicht ohne ihn. Und was weiß ich über ihn? Nichts weiß ich."
Im Gegensatz zur "diffusen Familienübereinkunft des Nicht-Redens", die, wenn sie aufgebrochen wurde, Hans Georg mehr als "Legende" präsentierte, möchte sie eine wirkliche Kenntnis des Menschen dahinter. Sie beschließt: "Ich kümmere mich um dich." Was sie in Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, Familienalben und Chroniken entdeckt, ist keine Geschichte von Widerständlern und Helden, sondern die Geschichte eines großbürgerlichen Hauses, das es im 19. Jahrhundert mit dem Erfolg der Firma Klamroth geworden war.
Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zur preußisch-wilhelminischen Gesellschaft bewegte den Großvater, als erster der Familie freiwillig zur Armee zu gehen. Ehre und Pflicht, dem Vaterland zu dienen, Gottesfurcht und Mannesmut waren die Werte, von denen auch die Kleinkinder nicht verschont blieben. Eine "kleine feige Memme" wird der 1898 geborene Hans Georg von seiner Mutter genannt und sein Vater bemerkt im Kindertagebuch: "Hoffen wir, dass Du mal ein tapferer, tüchtiger Mann wirst." Kriegsspiele sind die "Hauptbeschäftigung" der Familie während der Ferien: "Uniformen, Fahnen, Appelle, mindestens vier Stunden "Dienst" am Tag halten die Kinder-Soldaten auf Trab. 1918 wird dieses Bild zwar gestört, ändert aber nichts ändert sich an dem nationalen Pathos und der Erschütterung, mit der die Familie und auch Hans Georg auf das Ende des Kaiserreichs reagieren.
Wibke Bruhns verfolgt die große Familie - sie selbst hat vier Geschwister - über fünf Generationen. Auch wenn es primär keine Geschichte des Nationalsozialismus und des 20. Juli 1944 ist, so ist sie es auf einer zweiten Ebene: Indem sie anhand der eigenen Familie die Kontinuitäten einer Gedankenwelt beschreibt, die sich von einer militaristischen Kaiserverehrung über die Ablehnung der Weimarer Republik bis hin zum Nationalsozialismus ziehen. Das steht keineswegs im Widerspruch zum Attentat auf Hitler, das Hans Georg Klamroth durch sein Schweigen deckte und ermöglichte. Im Gegenteil: Es waren genau diese Kontinuitäten, in denen die Autorin die Motive erkennt: "Diese Offiziere wollten ein zweites Versailles vermeiden, sie opponierten gegen Hitlers Inkompetenz als Oberster Kriegsherr, es ging ihnen um ein erträgliches Kriegsende, nicht um Sühne für untilgbare Schuld. Die Größe Deutschlands, die deutsche Ehre stand auf dem Spiel, diese gottverdammte Fahne, die sie besuldelt sahen."
Nach anfänglichem Zögern - der Pöbel der SA-Truppen ist HG zuwider - entwickelt sich die Familie nach 1933 im damaligen Sinne vorbildlich. Hans Georg tritt in die NSDAP ein, später auch in die SS; seine Frau Else, notiert über eine Reise durch Deutschland 1935: "Es waren wirklich sehr patriotische Gefühle, die uns beim Durchfahren bewegten, und unentwegt sangen wir ‚Deutsch ist die Saar' und riefen ‚Heil-Hitler'."
Solange die Wehrmacht gewinnt, ist die Welt in Ordnung. Mit der Kapitulation von Stalingrad im Januar 1943, der zunehmenden Belastung durch den Kriegsalltag - das Haus in Halberstadt ist voll von obdachlos gewordenen Flüchtlingen - wird diese Gedankenwelt erschüttert, wenn auch nicht grundsätzlich. "Ich weiß die Wahrheit nicht", schreibt Bruhns schließlich über die Haltung des Vaters zu seiner Mitwisserschaft über den 20. Juli. Die Unterlagen, meistens von der Gestapo vernichtet, lassen nur Andeutungen zu.
Zeitgleich leidet auch der familiäre Zusammenhalt mit der Entfremdung der Eltern. Der Vater hat das Vertrauen der Mutter durch zahlreiche Affären verspielt und kann es auch in verzweifelten Versuchen bis zu seinem Tod 1944 nicht wiedergewinnen. Ein Umstand, der die Tochter besonders schmerzt. Für die Mutter bleibt HG zeitlebens eine "offene Wunde" und für die Tochter deshalb ein Fremder. Mit diesem Buch gelingt Wibke Bruhns nun eine einfühlsame und zugleich kritische Annäherung an die Elternwelt.
Wibke Bruhns
Meines Vaters Land.
Geschichte einer deutschen Familie.
Econ-Verlag, München 2004; 386 S., 22,- Euro
Die Autorin ist Volontärin in der Redaktion "Das Parlament".