In Polen und in Osteuropa sind wir im Bereich ‚Druckvorstufe für die Verpackungsindustrie' eine der marktführenden Firmen in unserer Branche. Und wir haben auch schon seit längerem Kunden in Westeuropa", sagt der 47-Jährige. "In Zukunft wollen wir unseren Kunden sagen können: ‚Wir sind eine polnische Firma, aber wir produzieren auch hier in Deutschland'."
Die Voraussetzungen für eine noch schnellere Erledigung von Aufträgen haben sich seit dem Start der Chespa in Leipzig in einer verkehrsgünstig gelegenen Fabrikhalle vor den Toren der Stadt deutlich verbessert. Sieben deutsche Angestellte sind bereits unter Vertrag, eine Expansion ist geplant. "Die Verzögerungen von zwei bis drei Tagen, wie sie durch die Wartezeiten beim Zoll beziehungsweise an der deutsch-polnischen Grenze entstehen, sind ein echter Wettbewerbsnachteil", sagt Joachim Siekiera, "abgesehen von den Kosten, die das verursacht, ist dies in unserer Branche eigentlich nicht mehr akzeptabel." Die damit verbundenen Probleme gehören für die Chespa und ihre Kunden der Vergangenheit an, egal, ob sich die Situation an der Grenze nach dem EU-Beitritt Polens im Mai 2004 zum Guten wenden wird oder nicht.
"Premiere" und "standortpolitische Sensation" titelte die Leipziger Lokalpresse einen Artikel über die Chespa im vergangenen Jahr. Die Ankündigung der Ansiedlung einer neuen Firma ist in Zeiten der Rezession natürlich immer eine Meldung wert, zumal in Leipzig, das am Image seiner Rolle als Drehscheibe zwischen Ost und West arbeitet. Aber das Besondere ist, dass erstmals ein polnischer Mittelständler in die Bundesrepublik expandiert und mit polnischem Kapital Arbeitsplätze schafft und zwar für deutsche Arbeitnehmer.
Die Leipzigerin Marlies Ronninger steht an einem großen Tisch und kontrolliert fertige Probeabdrucke aus der Offset-Druckmaschine. Als die gelernte Repro- duktionsfotografin Ende der 90er-Jahre zum zweiten Mal nach der Wende arbeitslos wurde, war sie 45 Jahre alt. Die zu Zeiten der DDR einst mächtige Buch- und Druckindustrie Leipzigs, Arbeitgeber für viele Tausende, war weitgehend zusammen gebrochen. Das Arbeitsamt verordnete Weiterbildungsmaßnahmen, Umschulung, ABM - ohne Erfolg. "Eigentlich hatte ich die Hoffnung schon aufgegeben", berichtet Ronninger. Doch am Tage vor ihrem 50. Geburtstag klingelt das Telefon. Der langjährige Arbeitskollege Detlef Hiebsch will wissen, ob sie mit ihm bei einer neuen Firma anfangen wolle. Ronninger und Hiebsch kennen sich aus vielen gemeinsamen Berufsjahren: zu DDR-Zeiten bei der Leipziger Interdruck, die nach der Wende teil weise von einem der größten westdeutschen Druckereiunternehmen übernommen wurde. Als dieses 1997 in Konkurs geht, wird die Leipziger Niederlassung trotz guter Zahlen und ausreichender Aufträge mit in den Abgrund gerissen. "Dass ich erst durch einen polnischen Unternehmer hier in Leipzig wieder Arbeit finden würde, hätte ich mir damals auch nicht vorstellen können", sagt Marlies Ronninger heute.
Eine glückliche Wende wie im Fall der Marlies Ronninger klang für Arbeitnehmer in Deutschland bislang eher wie ein Märchen oder gar wie Hohn. Denn für sie bedeuteten deutsch-polnische Joint Ventures in aller Regel eine Bedrohung, wenn nicht gar den Verlust des eigenen Arbeitsplatzes. Normalerweise funktioniert die Mobilität der Wirtschaft nämlich fast ausschließlich in Richtung Osten: und wenn Firmen aus Deutschland "nach Polen gehen", dann gehen die Arbeitsplätze meist mit.
Die Fahrbahn in Gegenrichtung wird zumindest in der offiziellen Wirtschaftssphäre bislang nur vereinzelt genutzt, wenn man von den immer wieder durch die Medien geisternden Vorzeigebeispielen wie dem polnischen Metzger, der in Berlin echte Krakauer Würste verkauft, oder diversen Friseuren und Bäckern in Frankfurt an der Oder absieht. Solche Handwerksbetriebe mussten bislang für freundlich bunte Stories in deutschen Medien herhalten, quasi als Kehrseite der Berichterstattung über Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft. Im Herbst 2003 kam allerdings eine wirklich neue Nuance in die Berichterstattung, als einige deutsche Grenzgänger in Frankfurt an der Oder von sich reden machten, die nach längerer Erwerbslosigkeit bei polnischen Autofirmen oder Tankstellen jenseits der Grenze Arbeit fanden. Diese Fälle wurden in den deutschen Medien dann aber doch eher als Beleg für die vermeintlich ausweglose Situation der Menschen in den neuen Bundesländern interpretiert, denn als Signal für die neuen wirtschaftliche Realitäten im zusammenwachsenden Europa. Die Erkenntnis, dass der polnische Arbeitsmarkt, vor allem in der Nähe der Grenze, zukünftig auch für deutsche Arbeitnehmer interessant werden wird, muss sich erst noch einen Weg in die Köpfe bahnen. Ein Unternehmer wie Joachim Siekiera gar, der freiwillig im Hochlohnland Bundesrepublik polnisches Kapital investiert, erscheint noch immer als Exot. Beim desolaten (Selbst-) bild des Standorts Deutschland und den tief verwurzelten Vorurteilen ist es für viele Menschen sowieso kaum vorstellbar, dass ein polnischer Unternehmer vor allem aus unternehmensstrategischen Gründen (und nicht aus dunklen Motiven) nach Deutschland kommt. "Natürlich will ich vor allem Geld verdienen", sagt Joachim Siekiera, "und das ist auch möglich, trotz des hiesigen Lohnniveaus."
Paradoxerweise scheint die Beschreibung osteuropäischer Musterbetriebe bei der Mehrheit der Bevölkerung bestehende Vorurteile über die polnische Wirtschaft zu bestärken, statt die Erkenntnis zu befördern, dass man ja auch hierzulande davon profitieren kann, wenn eine dynamische, schnelle und hochmotivierte Generation von jungen Unternehmern in Wartestellung hinter der Grenze steht. Die Hindernisse sind vielfältig, die Abschottungsmechanismen einfallsreich bis absurd. Manchmal gleicht die Gründung einer Niederlassung in Deutschland noch immer "einem Weg durch die Hölle", sagt die langjährige Handelsrätin im polnischen Generalkonsulat, Wanda Galicz-Ostrowska.
Dabei sind polnische Firmen auf dem deutschen Markt so neu - und so selten - nun auch wieder nicht. Schon seit langem, spätestens jedoch seit Ende der 80er-Jahre, gibt es Handelsniederlassungen, Büros für Import oder Export, seltener auch einmal hier nieder gelassene polnische Restauratoren oder Modeateliers. Doch beim größten Teil der polnischen Wirtschaftsaktivitäten hier zu Lande handelt es sich noch immer um Subunternehmer, die von Polen aus ihre eigenen Arbeitskräfte schmutzige und schwierige Arbeiten wie Rohbau und Metallflechten auf Baustellen verrichten lassen. Das produzierende Gewerbe hingegen war bislang kaum auf dem bundesrepublikanischen Markt vertreten. Als Arbeitgeber für besonders qualifizierte deutsche Arbeitnehmer waren polnische Firmen hierzulande bislang fast undenkbar. Daran hat auch der vielbeachtete Markteintritt der polnischen Tankstellenkette Orlen vor einem Jahr nichts geändert.
Wie sehr das Bild, das sich vor allem die Deutschen von Polen machen, noch in einem anderen Punkt hinter der Realität hinterherhinkt, zeigt eine andere, weitgehend unbekannte Zahl: Etwa 80.000 Deutsche arbeiten inzwischen in Polen, meist in einem der 8.000 deutschen Unternehmen oder als Sprachlehrerinnen und -lehrer. Wer also glaubt, dass die deutsch-polnische Grenze bislang nur in die eine (und zwar die für den deutschen Arbeitsmarkt schädliche) Richtung durchlässig ist, täuscht sich. Doch all diese Fakten können vorläufig nichts daran ändern, dass der bevorstehende EU-Beitritt vor allem Befürchtungen hervorruft und Ängste weckt: In den ostdeutschen Nachbarstaaten der Beitrittsländer Polen und Tschechien fürchtete man sich trotz Übergangsfristen mittelfristig vor Lohndumping und Billigkonkurrenz, vor allem im Handwerk. Des weiteren werden viele Millionen für öffentliche Infrastruktur aus Brüsseler Fördertöpfen wegfallen, wenn die bislang mit der höchsten Förderstufe unterstützten Regionen ihre Hilfsgelder zukünftig an die noch ärmeren neuen Nachbarn jenseits der Grenze weiterreichen müssen. Nach einem kürzlich im Auftrag des sächsischen Wirtschafts- und Arbeitsministeriums erstellten Gutachten des ifo-Instituts in Dresden ("Auswirkungen der EU-Osterweiterung auf Wirtschafts- und Arbeitsmarkt in Sachsen") ergibt sich für den Bereich der KMU (Kleine und Mittlere Unternehmen) jedoch ein recht differenziertes Bild. Die Verteilung der Chancen und Risiken der Osterweiterung hängt nach Ansicht der Dresdner Experten von der Branche, der Art der Produktion und der Bedeutung von Distanzkosten für die jeweilige Sparte ab. Ausdrücklich vermerken sie, dass noch immer eine abwartende beziehungsweise desinteressierte Haltung vieler Unternehmen festzustellen sei; für deren Vorbereitungsstand haben sie nur das Prädikat "alarmierend".
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Chespa in Leipzig, die selbstverständlich nach deutschen Tarifen bezahlt werden, müssen sich um den Vorbereitungsstand ihres Unternehmens keine Sorgen machen. Auch vom neuen, gereizten Ton in den deutsch-polnischen Beziehungen ist hier nichts zu spüren. Was in dieser Firma sofort auffällt, ist die ruhige, konzentrierte und freundlich professionelle Atmosphäre, die dann entsteht, wenn erfahrene Mitarbeiter voller Elan eine neue Aufgabe angehen. Ob diese positive Grundstimmung auch damit zusammenhängt, dass keiner der hier Beschäftigten - fast alle sind über 50 Jahre alt - noch vor einem Jahr hoffen durfte, jemals wieder im eigenen Beruf arbeiten zu dürfen? Aber auch die Chefs geben eine engagierte, auf die Arbeit gerichtete Haltung vor. Ein eigenes Büro haben sie noch nicht, das Geld für zusätzliche Ein- und Umbauten, gar für repräsentative Büromöbel, wurde vorläufig gespart. Dafür laufen die Geschäfte gut, und wenn alles wie geplant verläuft, wird die Chespa in Leipzig demnächst die Zahl ihrer Mitarbeiter erhöhen können.
"Viele polnische Unternehmen warten mit ihrem Gang in den Westen noch bis nach dem 1. Mai 2004", vermutet Joachim Siekiera. "Für uns war der Start sicher etwas schwieriger, als er nach dem EU-Beitritt Polens sein wird." Seine Entscheidung, die Expansion in den Westen schon deutlich vor der EU-Osterweiterung im Mai 2004 zu beginnen, hat er bis lang nicht bereut. Die Geschäftsstrategie scheint aufzugehen, die Auftragsbücher sind gefüllt. "Meine polnischen Unternehmerkollegen warten noch ab und schauen, wie es mir ergeht", beschreibt Siekiera seine Pionierrolle, die er selbst für "gar nicht so besonders" hält. "Aber wir sind dann eben schon da, wenn die anderen eines Tages auch hierher kommen."