Ob Kristof Festecics Angst hatte, vor Langeweile umzukommen, ist nicht überliefert. Wie auch immer, ihm verdankt Keszthely, die zweitgrößte Stadt am Balaton, eine einzigartige Bibliothek mit mehr als 100.000 Bänden und Originalschriften. Es war im 18. Jahrhundert, als Herr Festecics, ein kroatischer Adelsmann, die Herrschaft über die Stadt übernahm und Keszthely zum Stammsitz seiner Familie auserkor. Das Schloss, in dem sich die Bibliothek befindet, zählt zu den größten und schönsten Ungarns. Darüber hinaus zeugen zahlreiche Bauten heute noch von dem kulturellen Glanz dieser Epoche.
Die erste, von Festecics gegründete Schiffahrtsgesellschaft am Balaton hat sich nicht so lange gehalten. Der Bau der Eisenbahnlinie entlang dem See in den 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts hat ihr den Rang "abgefahren". Mit der Eisenbahn wurde Keszthely zur Kur- und Badestadt, und überall am Balaton setzte zu dieser Zeit der Fremdenverkehr ein.
Seitdem hat sich nicht nur in Keszthely vieles verändert, sondern überall am Balaton. Insbesondere der Sozialismus hat seine deutlichen Spuren hinterlassen. In steter Sorge um die Produktivität der Werktätigen baute die Partei den Balaton zur Erholungsstätte für die Arbeiter auch aus dem Bruderland DDR um. Rund um den Balaton stehen noch heute, teils in beklagenswertem Zustand, die Nachlassenschaften der sozialistischen Stadtplanung: Plattenbauten, Hotels und Erholungsheime. Doch der Reisende spürt die Bemühungen, ehemaligem Glanz zu neuem Leben zu verhelfen. Viele alte Bauwerke sind restauriert und viele neue Häuser errichtet.
Der Tourismus in Ungarn hat in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen, und die Regierung hat große Bemühungen darauf gerichtet, ihn weiterhin zu fördern. Seit 1990 haben sich die Einnahmen aus dem Tourismus mehr als vervierfacht. Im Jahr 2000 deck-ten diese Einnahmen das gesamte Außenhandelsdefizit ab und erwirtschafteten sogar noch Mehreinnahmen.
Doch was macht den Reiz Ungarns eigentlich aus? An landschaftlichen Schönheiten und kulturellen Sehenswürdigkeiten hat das Land, verglichen mit anderen Urlaubsregionen, wenig zu bieten. Aber im Vergleich zu vielen Reisezielen innerhalb der EU kann man dort noch ausgesprochen günstig Urlaub machen. Das könnte ein Grund für die Beliebtheit sein. Ein weiterer ist die Nostalgie, die viele Erholungssuchende von früher zweifellos noch heute für das Land empfinden. Sie ist besonders an den Thermalquellen zu spüren, die seit Hunderten von Jahren Anziehungspunkt für Erholungssuchende sind.
In dem sechs Kilometer vom Balaton-Nordufer gelegenen Héviz, der Stadt mit dem zweitgrößten Warmwassersee der Welt, nimmt diese Form des Gesundheitsurlaubs zum Beispiel fast surreale Formen an. Die Badeanstalt des Sees ist eine Perle unter ihresgleichen. Sie stammt aus dem vorletzten Jahrhundert und ist, weil kaum verändert, absolut sehenswert. Im Zusammenspiel mit dem von Seerosen geschmückten Wasser wirkt das Ganze beinahe märchenhaft. Vor dieser Kulisse treiben ganzjährig hunderte, meist ältere Menschen mit ihren Schwimmhörnchen dicht an dicht wie Treibgut auf dem See.
Aus der sozialistischen Zeit stammt allerdings auch noch so manch schmucklose Einrichtungt rund um den Balaton, die dem Begriff "Badeanstalt" alle Ehre macht. Noch heute ist darin der Muff vergangener Tage deutlich zu spüren, und man fühlt sich dahin zurück versetzt. Dennoch beklagen sich die Betreiber nicht über einen Mangel an Gästen. Es sind meist ältere Menschen, die diese heilsamen Bäder aufsuchen. Der strenge Schwefelgeruch des heilsamen Wassers läßt sich wohl am besten ertragen, wenn das körperli-che Zipperlein noch größer ist als er.
Aber es gibt auch eine andere Seite des Urlaubs am Balaton und zwar das südöstliche Ende, genauer, die Stadt Siófok. Der Ballermann auf Mallorca zeigt nach vielen Jahren Abnutzungserscheinungen, und durch die Euroumstellung und Sonderabgaben für Touristen ist das Vergnügen auf Mallorca längst kein billiges mehr. Die Horden Vergnügungssüchtiger zieht es daher an neue Gefilde. Dort am südöstlichen Ende des Balatons ist ein solches in den vergangenen Jahren entstanden. Dabei verdankt es Siófok möglicherweise dem Sozialismus, dass es die Ballermannsüchtigen gerade in seine Gegend verschlagen hat. Nirgends sonst am Balaton hat er seine weithin sichtbaren Betonspuren so deutlich hinterlassen wie dort. Diese Quartiere allein sind in der Lage, die neuen Massen aufzunehmen.
Wie auf Mallorca konzentriert sich diese Szene aber auf einem relativ kleinen Teil des zur Disposition stehenden Areals. Der restliche Teil des Sees wird überwiegend von Familien und älteren Leuten bevölkert, die einfach günstig Urlaub machen wollen. Hier liegt ein gravierender Unterschied zu Mallorca. Dort ha-ben sich in mehr oder weniger friedlicher Koexistenz zwei Urlaubsphilosophien entwickelt. Die einen lieben auf Mallorca wie am Balaton das ungebremste Vergnügen und sein darauf ausgerichtetes, reichhaltiges Angebot innerhalb der dafür vorgesehenen Gemarkungen. Die anderen lieben Mallorca für die Schönheit der Insel und schätzen ihren Abwechslungsreichtum als Wander- und Radfahrparadies.
Da Ungarn derartige landschaftliche Attraktionen aber nicht besitzt, ist es schwer vorstellbar, dass das Gros der Touristen den Weg noch zum Balaton finden wird, wenn die Preise deutlich anziehen. Diese Entwicklung hat aber bereits begonnen. Im Zuge der EU-Erweiterung sind überall in Ungarn die Löhne und Gehälter gestiegen. In wenigen Jahren will das Land darüber hinaus der Eurozone beitreten. Damit könnte dann der nächste Preisschub verbunden sein. Man denke an den so genannten Teuro bei der Einfühung des Euro in Deutschland. Der Euro könnte für Ungarn und speziell den Balaton eine harte Be"Währungs"probe werden.
Vielleicht laufen deshalb die Bemühungen der ungarischen Regierung auf Hochtouren, dem Tourismus ein klareres Profil zu geben. Mit staatlicher Förderung wie dem so genannten "Széchenyi-Plan" werden die Verbesserung der Infrastruktur und der touristischen In-formationssysteme sowie die Qualität und Ausbildung der im Tourismus Beschäftigten vorangetrieben. Schwerpunkte dieses Tourismusplans sind die Weiterentwicklung der Thermalangebote, des Konferenztourismus, die Einrichtung von Ferienparks sowie die Entwicklung des Schlosstourismus.
Langfristig möchte man gerne auf Erscheinungen wie den Partytourismus in Siófok verzichten. Das Regionale Projektbüro für Tourismus am Balaton hat bereits den naturschonendem Tourismus ausgerufen. Sein Programm lautet: Schluss mit der grenzenlosen, "uferlosen" Bebauung des Balaton-Ufers. Schluss mit der totalenVermüllung durch Dauerparties à la Ballermann. Auch der adlige Kristof Festecics, seine reichhaltige Bibliothek und das dazugehörige Schloss könnten sich über mehr Kulturinteressierte übrigens nur freuen.
Michael Jäger lebt als freier Journalist und Unternehmensberater in Köln.