Ab Mitte 1953 kam in Ungarn Vieles ans Tageslicht: Man sprach offen über das Scheitern des ersten sozialistischen Fünfjahrplanes, über den Terror der Kollektivierung in den Dörfern, über die Internierungslager und Schauprozesse. Für deprimierte Stimmung im Lande gab es Grund genug. Die Produktivität in der Industrie war gesunken, die Selbstkosten hatten sich erhöht, die geplanten Investitionen konnten nicht durchgeführt werden, und die landwirtschaftlichen Erträge blieben wegen der ungünstigen Witterung unter dem Vorjahresstand. Nichtsdestotrotz lieferten die Statistiken auch positive Zahlen: der Zuwachs der Bevölkerung erreichte seit 1914 die höchste Zahl: 9.750.000 Menschen lebten nun in Ungarn. Unter ihnen gab es 1.270.000 stolze Besitzer von Volksempfängern, die wussten, dass wenigstens eine Sache in Ordnung war: der ungarische Fußball.
Eine Saison nach der anderen hatten die ungarischen Fußballspieler bereits in in- und ausländischen Stadien traumhafte Ergebnisse erzielt. Sie hatten die Gegner in die Tasche gesteckt und mit ihrer herausragenden Spielkunst Millionen von Sportliebhabern verblüfft. 1952 zum Beispiel gewannen die ungarischen Nationalkicker bei den Olympischen Spielen in Helsinki die Goldmedaille. Beim einem Länderspiel im November 1953 stürzte die mittlerweile als "goldene Mannschaft" gefeierte Elf sogar die bis dahin unbesiegbaren Briten im Londoner Wembley Stadion mit 6:3 vom Thron. Spätestens von da an waren die Spieler zum Gegenstand ungarischen Selbstbewusstseins und nationalen Stolzes avanciert. Es schien also mehr als selbstverständlich, dass auch die Weltmeisterschaft in Bern für Ungarn mit einem guten Omen begannen: 4:2 gegen Brasilien, 4:2 gegen Uruguay und 8:3 gegen die Bundesrepublik Deutschland. Die ungarische Regierung, die Fußballspieler und die Öffentlichkeit badeten im Triumph. Alle waren stolz: Die "Jungs" auf ihre "goldenen Füße", die Politiker auf den von ihnen geförderten Sport, und die ungarischen Fans auf ihre Nationalhelden.
Die Parteiführung in Budapest erkannte die Bedeutung des historischen Augenblicks und legte eine besondere Großzügigkeit an den Tag. Trotz des allgemeinen Reiseverbots erlaubte sie einigen Familienangehörigen der Mannschaft, für das Endspiel Deutschland gegen Ungarn in die Schweiz zu reisen. Die Frauen wurden am Ostbahnhof von einer begeisterten Menschenmenge verabschiedet. Diese Vorfreude, zwei Tage vor dem Finale, erwies sich als trügerisch. Ungarische Sporthistoriker datieren die Häufung der ungünstigen Ereignisse, die das Endergebnis 3:2 für Deutschland beeinflussten, auf diesen Tag. Einige Frauen verließen nämlich - um Wasser zu holen - den Waggon auf einer Station, wo der Zug normalerweise nur für zwei Minuten hielt. Die Eisenbahn fuhr fahrplanmäßig ohne sie nach Zürich weiter. Dieser Zwischenfall löste bei den aufgrund der vielen Verlängerungen in den vorhergehenden Spielen ziemlich ermüdeten Spielern Unruhe aus. Dazu kam das regnerische Wetter am 4. Juli, der nicht einhundertprozentige körperliche Zustand des Stars Ferenc Puskás und der ein wenig konfuse Beginn der Rundfunkübertragung. Kommentator György Szepesi, den die ungarischen Sportfreunde als den 12. Spieler betrachteten, nahm nämlich an der Frühbesprechung der Mannschaft nicht teil und wusste über den taktischen Rollenwechsel der Spieler nicht Bescheid.
Die gute Form der deutschen Spieler, die selbstsichere Strategie Sepp Herbergers, die ausgezeichnete Qualität der Stollen bei der Mannschaft von Fritz Walter sind hingegen nicht erst seit dem Film "Das Wunder von Bern" hierzulande bekannt. Die ungarische Nationalelf wurde Vizeweltmeister. Die Verbitterung der Spieler und Fans war unbeschreiblich. Das Schluchzen des Rundfunkmoderators Szepesi klang den Hörern noch in den Ohren, als der in die Schweiz delegierte Korrespondent der Parteizeitung erste Bilanz zog: "Als wenn wir aus dem siebten Himmel gefallen wären - so fühlten wir uns am Sonntag nach dem Endspiel der Weltmeisterschaft. Inzwischen haben wir über das Ganze schon geschlafen. Aber es scheint noch immer ein Alptraum zu sein, dass unsere Truppe nun eine Niederlage von einem Team einstecken musste, das man wirklich guten Gewissens nicht zu den drei besten der Welt rechnen kann."
Die Organisation der Rückreise der ungarischen Spieler wurde zur Chefsache. Am 7. Juli war es so weit. Parteifunktionäre nahmen die Mannschaft an der Grenzstation Hegyeshalom in Empfang und brachten sie in das Trainingslager Tata. Von dort aus fuhren die Spieler nach Mitternacht in PKWs nach Budapest. Sie mussten regelrecht reingeschmuggelt werden, da die enttäuschten Fans, an die 200.000 Menschen, gleich nach dem Spiel die Straßen überfluteten, Schaufenster zertrümmerten und den kleinwüchsigen Sohn des Cheftrainers Sebes krankenhausreif prügelten.
Der ungarische Fussball hat sich von den Folgen der WM-Niederlage jahrzehntelang nicht mehr erholt. 1948 hatte man noch unter Hinzuziehung freiwilliger Bauarbeiter mit der Errichtung des Volksstadions in Budapest begonnen. Geplant waren dort 100.000 Sitzplätze, bis 1954 wurden etwa Dreiviertel bis zur Einweihung fertig gestellt. Dann wurde der Weiterbau gestoppt. Nach dem Volksaufstand von 1956, dessen Zündstoff viele Historiker in der Fußballtragödie sehen, waren die Westgrenzen des Landes zeitweilig offen. Unter den Ausgewanderten befanden sich manche Stars wie Kocsis, Puskás und Czibor sowie die gesamte Nachwuchself.
Danach kam die Phase der Stagnation, wenngleich mit einigen Höhepunkten wie bei der WM in Chile 1962, als die Ungarn unter die fünf besten Mannschaften kamen. Zwei Jahre später bei den Olympischen Spielen in Tokio grüßten wieder die Klänge der ungarischen Hymne die besten Spieler. Dieser Schwung hielt nicht mehr lange an; die Ungarn nahmen Abschied vom Rasen der ausländischen Stadien und lebten sich fortan im sozialistisch organisierten heimischen Fußballalltag aus. Die Partei sorgte sich weiter um die einzelnen Profispieler: PKWs ohne die übliche langjährige Wartezeit, Kühlschränke und Fernsehgeräte, und nicht zuletzt das nobelste Geschenk, die Eintragung von Schein-Arbeitsstellen in den Personalausweis.
Langsam aber sicher verlor der ungarische Fußball seine Anziehungskraft; in den Städten wurden kaum neue Stadions gebaut, geschweige denn bestehende renoviert. In dieser Situation brach die Wende von 1989 - 90 an. Für den Fußball war es allerdings zunächst noch keine zum Guten. Während die Nationalkicker in der sozialistischen Zeit wenigstens noch gewisse Privilegien genossen, wurden nach dem Systemwechsel alle Zahlungen eingestellt. Der Staat hatte kein Geld mehr, und die Privatisierung der Klubs und Vereine begann nur langsam. Die Unlust, in einen unfruchtbaren Industriezweig zu investieren, war jahrelang nicht zu übersehen. Erst 1998, als die jung-dynamischen Vertreter der rechtskonservativen Regierung an die Macht kamen, begann die Politik, dem Fußballsport gegenüber eine ambitionierte Haltung einzunehmen. Sie gab grünes Licht für die Privatisierung der Fußballklubs und verabschiedete das so genannte Nachwuchs- und das Stadionrenovierungsprogramm. Der Verkauf der Mannschaften lief in der Hauptstadt relativ gut an, in der Provinz liegen die Vereine jedoch nach wie vor den Gemeinden auf der Tasche. Das Fehlen entsprechender Mittel macht Spieler und Fans gleichermaßen unglücklich. Die Hoffnung richtet sich auf den Nachwuchs. Bei dessen Ausbildung geschieht tatsächlich etwas. Seither ist Fußball zumindest unter den Kindern und Jugendlichen wieder attraktiv geworden. Immerhin verbirgt sich, so vermuten Experten, unter 40.000 eingeschriebenen Nachwuchsspielern einer von Weltrang. Dennoch wird der ungarische Fußball noch Jahre brauchen, um sich wieder zu erholen.
50 Jahre nach Bern reden die Fans über den großen Triumph im Wembley-Stadion und beweinen immer noch das Endspiel in der Schweiz. Alle haben sich zwar damit versöhnt, dass das dritte Tor von Puskás, das der Schiedsrichter zum Abseits erklärte, wahrscheinlich auch nicht den Sieg gebracht hätte. Fußballer Buzánszky wacht, wenn er von dem Spiel träumt, schweißgebadet auf. Er wird am 4. Juli 2004 mit Grosics und Szepesi die ungarische Mannschaft in Kaiserslautern begrüßen. Dort kommt es zu einem Freundschaftsspiel zwischen den beiden Nationen. Wenn Ungarn siegen würden, könnte man von einem Wunder von Kaiserslautern sprechen. Andrea Dunai