Noch gibt es relativ wenige türkischstämmige Senioren und Seniorinnen in deutschen Altenheimen, und noch ist das multikulturelle Altenheim "Haus am Sandberg" in Duisburg eine Ausnahme. Doch das wird schon bald anders sein.
"In der Türkei konnte ich kein Geld verdienen, deshalb bin ich 1965 nach Deutschland gekommen. Ich wollte immer hier bleiben. Das Leben war hier besser." Sela Akttin Güngör hat auf der Zeche Zollverein Kohle abgebaut, als noch kein Mensch auf die Idee kam, dass eine Zeche aus Backsteinen jemals zu einem Weltkulturerbe werden könnte. Dass er sich schon in den 60er-Jahren dazu entschlossen hatte, für immer in Deutschland zu bleiben, macht Güngör zu einer Ausnahme. Sein Wohnort auch: Der Rentner wohnt in Deutschlands bislang einzigem multikulturellem Altenheim, dem Duisburger Haus am Sandberg.
Als die Bundesrepublik in den 50er-Jahren damit begann, erst in Italien, Griechenland und Spanien, später, ab den 60er-Jahren dann auch in der Türkei, Arbeitskräfte anzuwerben, dachte noch niemand daran, dass diese einmal als Senioren ihren Lebensabend in Deutschland verbringen würden. Die Bundesrepublik sah in ihnen kaum mehr als Arbeitskräfte, die nach wenigen Jahren gegen neue ausgetauscht werden sollten und auch von den so genannten Gastarbeitern hatte kaum einer vor, dauerhaft zu bleiben: Nur wenige Jahre wollten sie in Deutschland Geld verdienen, um dann in ihre Heimatländer zurückzukehren und eine Existenz aufzubauen. Eine Lebenslüge auf beiden Seiten, an der festgehalten wurde - auch als längst die Familien nachkamen und absehbar war, dass eines Tages auch Senioren mit Migrationshintergrund in Deutschland leben würden.
Mittlerweile leben über 800.000 Ausländer, die über 60 Jahre alt sind, in Deutschland. Zählt man die Deutschen dazu, die einen Migrationshintergrund haben, liegt die Zahl weit über einer Million. Viele von ihnen sind Türken oder haben einen türkischen Hintergrund.
"Allein in Duisburg leben über 85.000 türkische Bürger. Wir müssen auch für diese Gruppe Angebote in der Altenpflege schaffen, zumal die Zahl der Pflegebedürftigen unter ihnen in den kommenden Jahren stark ansteigen wird," beschreibt Heimleiter Rolf Krause die Situation. Sie war der Grund, warum sich das Deutsche Rote Kreuz dafür entschied, das 1997 eröffnete "Haus am Sandberg" als multikulturelles Altenheim zu konzipieren. Ein Name, der für Krause nur für eine Übergangszeit gelten wird: "Was wir hier machen," so der studierte Sozialarbeiter, "ist in zehn Jahren nichts Besonderes mehr, sondern der Normalfall." Dann, da ist er sich sicher, gäbe es, zumal in den Ballungsgebieten, kaum mehr ein Altenheim, in dem nicht Senioren mit den unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen zusammen leben würden.
Über 200 Besuchergruppen aus der ganzen Welt haben sich in den vergangenen Jahren das Haus am Sandberg angeschaut. Viele von ihnen werden die dort gemachten Erfahrungen in ihre eigenen Planungen mit einbeziehen. Im Haus am Sandberg, einem lichten Gebäude mit offener Architektur, vielen Fenstern und viel Holz, leben 94 ältere Menschen, darunter zwölf Türken, zwei Holländer, ein Tunesier und ein Russe. Betreut werden sie von 90 Mitarbeitern, darunter neun türkischstämmigen und zahlreichen freiwilligen Helfern aus den verschiedensten Ländern. Ohne die sei, so Krause, die Arbeit überhaupt nicht zu leisten: "Wir haben uns von Anfang an große Mühe gegeben, mit den Kirchengemeinden und den Moscheevereinen zusammen zu arbeiten. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter sind unverzichtbar, wenn es darum geht, unseren Bewohnern die Lebensqualität zu sichern."
Der Alltag im Haus am Sandberg ist nahezu konfliktfrei. Streit gibt es nicht zwischen den Bewohnern aus unterschiedlichen Kulturen, sondern eher zwischen den noch regeren Bewohnern und den Demenzkranken, welche oft die Geduld der anderen auf eine schwere Probe stellen.
"Oft", beschreibt Rolf Krause, "versuchen türkische Familien, ihre Verwandten so lange zu pflegen, wie es geht, aber gerade bei Demenzkranken führt auf die Dauer kein Weg an der professionellen Pflege vorbei."
Diesen Zeitpunkt wollen jedoch türkische Senioren, wie auch ein Großteil ihrer deutschen Leidensgenossen, so weit wie möglich hinauszögern. Über die Hälfte von ihnen lehnt es ab, in ein Heim zu ziehen.
Ausländische Senioren sind hochmobil. Auch wenn sie zu einem großen Teil nicht für immer in ihre Heimatländer ziehen, verbringen sie doch zum Teil Monate dort. Sie leben in zwei Welten, zumindest so lange es ihre Gesundheit und ihre finanziellen Verhältnisse erlauben. Die sind, wie auch andere Lebensumstände, deutlich schlechter als bei gleichaltrigen Deutschen. Türkische Rentner haben im Durchschnitt weniger Geld, leben in schlechteren Wohnungen und sind gesundheitlich häufiger belastet - eine Konsequenz aus einem Arbeitsleben, das oft aus anstrengenden und ungesunden Tätigkeiten bestand.
Umso wichtiger wäre da eine funktionierende ambulante Versorgung. Aber eine von der Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales der Stadt Hamburg 1998 in Auftrag gegebene Studie zeigt auch in diesem Bereich einen erheblichen Nachholbedarf.
Obwohl vielen bekannt, nutzen nur sehr wenige türkische Senioren die Angebote der ambulanten Altenhilfe. Ob Altenclubs, Essen auf Rädern oder seniorengerechte Angebote der Volkshochschule - nur bei einer sehr kleinen Minderheit stoßen sie auf Akzeptanz. Die Gründe hierfür sind unterschiedlich. Zum einen ergab die Studie, dass es ein ethnisches Altern gibt: Mit zunehmendem Alter orientieren sich Migranten wieder an der Kultur ihres Heimatlandes, was auch daran liegt, dass die Kindheit mit höher werdendem Alter eher verklärt wird und die geringer werdende Zahl der noch lebenden Freunde es attraktiv macht, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Auch dass mit wachsender Nähe zum Tod religiöse Fragen immer wichtiger werden, trägt zu dieser Entwicklung bei.
Die Studie erbrachte auch zahlreiche Forderungen, wie in Zukunft Altenpflege organisiert werden müsste. Die Tatsache, dass das Haus am Sandberg auch beinahe fünf Jahren nach Erscheinen der Studie der Hamburger Sozialbehörde das einzige multikulturelle Altenheim Deutschlands ist, zeigt, dass noch erheblicher Handlungsbedarf besteht: So sollen Institutionen der Altenhilfe aktiv auf türkische Senioren zugehen und kulturell geschulte Mitarbeiter haben, die beispielsweise auf besondere Schamgrenzen bei moslemischen Frauen Rücksicht nehmen. Auch sollten Altenpfleger für die Arbeit mit ausländischen Senioren qualifiziert und Einrichtungen mit ethnischen Schwerpunkten geschaffen werden.
Geschieht das nicht, sieht Rolf Krause ein wachsendes Potential für rein ethnische Lösungen: "Moscheevereine", so der Heimleiter, "werden eigene Altenheime gründen, vor allem wenn es keine entsprechenden Angebote der traditionellen Träger der Altenpflege gibt. Stefan Laurin