Schon sechs Jahre nach der grundlegenden Neuausrichtung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg muss der Europarat die Reißleine ziehen und eine erneute Reform auf den Weg bringen. Die Flut der Beschwerden von Bürgern aus ganz Europa, die sich in ihren Grundrechten verletzt fühlen und in ihren Ländern abgewiesen wurden, steigt jährlich um 25 bis 30 Prozent an, wie der Schweizer Präsident des Menschenrechtsgerichtshofs, Luzius Wildhaber, mitteilte. So seien letztes Jahr 38.000 Beschwerden in Straßburg eingegangen, und nichts deute darauf hin, dass sich diese Entwicklung umkehren könnte. In zwei oder drei Jahren müsse wahrscheinlich mit 50.000 neuen Beschwerden gerechnet werden. Dagegen könne das Gericht mit je einem Vollzeitrichter aus den 45 Europaratsstaaten nicht ankommen.
In einem vom Ministerkomitee entwickelten, drei Wege beschreitenden Reformenansatz in Form eines 14. Zusatzprotokolls zur Menschenrechtskonvention ist vor allem eine stärkere Filterung der Beschwerden auf ihre Zulässigkeit vorgesehen. Diese Stoßrichtung löst nicht nur bei Menschenrechtsorganisationen, sondern auch bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarats Befürchtungen aus, das Recht auf Individualbeschwerde, ein weltweit einzigartiges Schutzsystem zur Achtung der Menschenrechte, könnte eingeschränkt werden. Dem hält Wildhaber entgegen, dass die einzige Alternative die unrealistische Erhöhung der Haushaltsmittel auf das Doppelte wäre. Folglich bleibe dem Gerichtshof keine andere Wahl, als sich auf die Beschwerden zu konzentrieren, die Grundsatzfragen betreffen und an den Kern der Menschenrechte rühren, auf Fälle also, die den Schutz der Menschenrechte in ganz Europa wirklich voranbringen könnten. Wenn sich die Richter jedoch weiterhin mit Fragen befassten, die sie schon tausendmal behandelt hätten, dann könne das zwar den einzelnen Kläger befriedigen, bringe aber die Sache der Menschenrechte nicht voran.
Der erste Ansatz des Europarates aber ist, die nationalen Gerichte dazu zu drängen, die Menschenrechtskonvention stärker bei ihrer Urteilsfindung zugrunde legen, damit weniger Beschwerden nach Straßburg kommen. Das gehe, meint Wildhaber, nur durch Überzeugungsarbeit, denn über eine Armee oder Polizeikräfte zur Durchsetzung der Normen verfüge der Europarat nun einmal nicht. Gewisse Sanktionen, und seien es nur regelmäßige öffentliche Beurteilungen auf diesem Gebiet, gäbe es schon, meinen die Abgeordneten der Versammlung.
Der zweite und aus Sicht des Gerichtshofs eigentlich der wichtigste Schritt, soll darin liegen, dass die Beschwerdeführer in Zukunft nachweisen müssen, dass ihre Klage begründet ist. Das sei bei einem ansonsten kostenlosen Beschwerdesystem doch nur legitim. Derzeit müsse in 95 Prozent der Fälle festgestellt werden, dass die Beschwerden unbegründet sind. Der Reformvorschlag gehe daher nicht zu Lasten begründeter Beschwerden. Im Gegenteil, der Gerichtshof werde eher in der Lage sein, so viele Beschwerden wie möglich entgegenzunehmen und sie korrekt und zeitnah zu bearbeiten.
Bei der umstrittenen Frage der Vorprüfung einer Beschwerde auf ihre Zulässigkeit scheint zumindest ein ursprünglicher Ansatz, diesen Filter bereits auf der Ebene der Mitgliedstaaten anzusetzen, vom Tisch zu sein, wie der Schweizer Vorsitzende der intergouvernementalen Redaktionsgruppe für das Projekt, Philippe Boillat, bestätigte. Wie solle das auch gehen, wenn ein Kläger beim obersten Gericht seines Landes abgewiesen wurde und zum Menschenrechtsgerichtshof gehen wolle? Welche andere Institution könnte dann die Zulässigkeit der Klage prüfen, als eben jenes Gericht, welches das ablehnende Urteil fällte, meinte Rudolf Bindig (D) vom Rechtsausschuss der Parlamentarischen Versammlung. Deshalb ist nun vorgesehen, dass die Vorprüfung von jeweils einem einzelnen, vom Präsidenten des Gerichtshofs bestimmten Straßburger Richter geprüft wird, wobei dieser nicht aus dem selben Land stammen darf wie der Kläger.
Die Parlamentarische Versammlung jedoch stellte fest, dass das neue Zulassungskriterium für Individualbeschwerden, wonach jede Beschwerde gegen ein Urteil für unzulässig erklärt werden könne, durch das der Beschwerdeführer vorbehaltlich einer eingehenderen Prüfung keinen erheblichen Nachteil erlitten habe, zu vage und subjektiv sei.
Dieser Passus, forderte der Vorsitzende des Rechtsausschusses, Eduard Lintner (D), müsse ganz verschwinden, weil er eine Zulässigkeit zu sehr auf eine vorwiegend materielle Schadenswiedergutmachung reduzieren könnte. Zugleich wandte sich die Versammlung gegen den Vorschlag, zusätzliche Richter aus einigen Mitgliedstaaten zu nominieren. Das könnte zu einer Ungleichheit zwischen den Ländern führen. Statt dessen sollten die Mitgliedsstaaten stärker in die Pflicht genommen werden, die Menschenrechtskonvention intensiver bei der Rechtsprechung zu berücksichtigen.
Als eigene zusätzliche Forderungen für die Reform schlägt die Versammlung vor, dass der Menschenrechtskommissar des Europarats von sich aus schwere Menschenrechtsverletzungen vor Gericht bringen kann. Sie unterstützen auch den Vorschlag, dass Richter nicht mehr wie bisher für sechs Jahre mit der Möglichkeit der Wiederwahl bestellt werden, sondern künftig ein neunjähriges, nicht erneuerbares Mandat erhalte. Das soll zur weiteren Stärkung ihrer Unabhängigkeit beitragen. H. H.