Von all den Vorzügen des Europasaals bekommt Dagmar Roth-Behrendt leider nur recht selten etwas mit. Eigentlich sollte die SPD-Politikerin ja regelmäßig zu Gast sein im Europa-Ausschuss: Schließlich zählt die Berlinerin zu den 14 deutschen EU-Parlamentariern, die als Delegierte ohne Stimmrecht in dieses Gremium entsandt werden - das auf diese Weise mit seinen 33 Bundestagsabgeordneten als ordentlichen Mitgliedern den größten Ausschuss der deutschen Volksvertretung bildet. Doch Roth-Behrendt war, wie sie sich erinnert, in den langen Jahren ihrer Straßburger Tätigkeit bei gerade vier oder fünf Sitzungen in Bonn oder Berlin dabei. "Das scheitert schlicht an Terminüberschneidungen", sagt die EU-Deputierte. Der Berliner Ausschuss komme nämlich stets dann zusammen, wenn die EU-Parlamentarier durch eigene Treffen in Brüssel oder Straßburg gebunden seien. Roth-Behrendt verhehlt ihren Unmut gegenüber den Bundestags-Kollegen nicht, die auf Wünsche nach besseren Absprachen bislang nicht eingegangen seien.
Von "kontinuierlichen Kontakten" zwischen den Abgeordneten des deutschen und des EU-Parlaments könne man bisher nicht reden, konstatiert Roth-Behrendt nüchtern. Vieles hänge vom direkten persönlichen Engagement einzelner Politiker auf informeller Ebene ab. Pläne, Konzepte, Strategien zur Intensivierung der Beziehungen zwischen Bundestag und EU-Deputiertenkammer "werden Makulatur bleiben, wenn man keine besseren Terminkoordination zustandebringt".
Den Eindruck, das deutsche Parlament bleibe bei der EU-Politik eher etwas außen vor, hat offenbar auch Peter Altmaier. Der CDU-Bundestagsabgeordnete spricht von einem "generellen Problem" der hiesigen Volksvertretung, die der Mitgestaltung und der Umsetzung von EU-Recht noch zu wenig Beachtung schenke. Der Bundestag bringe eigene Positionen nur unzureichend in die EU-Politik ein. Was in Brüssel und Straßburg laufe und beschlossen werde, resümiert der Saarländer, "ist bislang vor allem Sache der Regierung, das Parlament wacht oft zu spät auf".
Von mangelndem Einfluss des Bundestags und besonders des Europa-Ausschusses auf EU-Ebene will dessen Vorsitzender Matthias Wissmann nicht reden. Der CDU-Politiker verweist darauf, dass Günter Verheugen, Michaele Schreyer und andere Brüsseler Kommissare immer wieder zu Gast seien. Ebenso lade man öfter Berichterstatter des EU-Parlaments ein, die in der Straßburger Kammer für die jeweiligen Themengebiete die zentralen Schaltstellen sind. Bei diesen Begegnungen werde, wie der Baden-Württemberger betont, durchaus auch kritisch diskutiert. Prinzipiell gehen alle Brüsseler Richtlinien von der Lebensmittelqualität über Wirtschaftswettbewerb oder die Regionalförderung bis zur Entsorgung von Altautos zwecks Begutachtung durch die Bundestags-Fachkommissionen und durch den Europa-Ausschuss. Vertieft beraten wird indes nur eine Minderheit der zahlreichen EU-Gesetze, die für die Mitgliedsstaaten verbindlich sind.
Wissmann: "Bei diesen Erörterungen zeigen wir Brüssel zuweilen die gelbe oder auch schon mal die rote Karte, und das verfehlt seine Wirkung nicht." So habe man etwa eine Entschärfung der von der EU geplanten Vorschriften für Werbung erreicht, erläutert der Unions-Politiker. Ein vorrangiges Thema im Europa-Ausschuss war der Entwurf für die geplante europäische Verfassung. Für die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im EU-Grundgesetz habe im Konvent in vorderster Front zwar Baden-Württembergs Ministerpräsident Erwin Teufel gefochten, "doch der hatte in diesem zentralen Punkt unseren Rückenwind", so Wissmann. Im Übrigen habe sich der Bundestag auch für die Erweiterung der Kompetenzen des Straßburger Parlaments in der Verfassung stark gemacht. Da habe man parteiübergreifend gehandelt.
Auch wenn Wissmann auf den Einfluss des Bundestags in Brüssel und Straßburg pocht: So richtig konkret fassen lassen sich die Beziehungen zwischen deutschem und EU-Parlament nicht. Die Kontakte gelten als "ausbaufähig". Eine solche diplomatische Formulierung findet Dagmar Roth-Behrendt recht treffend. Die SPD-Politikerin weist darauf hin, dass den nationalen Parlamenten im EU-Geflecht bisher keine institutionellen, keine formellen Mitbestimmungsrechte zuerkannt sind. In dieser unklaren Rolle dürfte der eigentliche Grund für das etwas diffuse Bild zu suchen sein, das sich die Öffentlichkeit von den Beziehungen zwischen Bundestag und EU-Volkvertretung macht.
Parlamente wachen in erster Linie über ihre heimischen Regierungen: Die Abgeordneten sollen deren Europa-Politik kontrollieren und mit eigenen Vorschlägen puschen. Das ist natürlich ein etwas mühsamer Weg, sozusagen durch die Hintertür. So sinnen denn die Volksvertretungen aller Staaten auf mehr Mitsprachemöglichkeiten bei der EU-Gesetzgebung. Wissmann etwa schwebt die Einrichtung eines Informationsbüros des Bundestags in Brüssel vor: "Wir müssen frühzeitiger über die Tendenzen in der EU-Politik unterrichtet werden, um uns schnell und effektiv einschalten zu können."
Hoffnungen setzt man beim Bundestag auf die neue EU-Verfassung, so sie denn in Kraft treten sollte. In deren Entwurf werden nämlich den nationalen Parlamenten gewisse Rechte gegenüber der EU-Politik zugestanden, und zwar bei der Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips: Die Zuständigkeiten der Volksvertretungen in den Mitgliedsländern sollen nicht entkernt werden, Brüssel und Straßburg sollen sich nicht über Gebühr in die Gesetzgebung auf heimischer Ebene einmischen. So wird jedes nationale Abgeordnetenhaus künftig vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg gegen die Verletzung des Subsidiaritätsprinzips durch Brüssel klagen können. Überdies muss künftig die EU-Kommission Entwürfe für Richtlinien überarbeiten, wenn ein Drittel der 25 Parlamente Widerspruch einlegt, erläutert Peter Altmaier.
In Gestalt des CDU-Politikers Altmaier und des hessischen SPD-Abgeordneten Michael Roth hat der Europa-Ausschuss schon mal zwei Subsidiaritäts-Beauftragte ernannt, die sich um dieses Thema kümmern sollen. Die deutsche Volksvertretung und die französische Nationalversammlung wollen auf diesem Feld gemeinsam vorgehen, Bundestagspräsident Thierse und sein Pariser Kollege Debré haben eine solche Zusammenarbeit vereinbart. Wie diese Kooperation konkret aussehen wird, ist noch offen, die Franzosen müssen ihre beiden Vertreter noch benennen. "Unabhängig vom Inkrafttreten der EU-Verfassung sollten wir ein politisches Frühwarnsystem installieren", meint Altmaier. Schon seit 1989 treffen sich Abgesandte der Europa-Ausschüsse der nationalen Parlamente sowie Mitglieder der Institutionellen Kommission der Straßburger Kammer halbjährlich zum Erfahrungsaustausch im "Cosac"-Forum, das freilich einen nur informellen Charakter hat und keine bindenden Beschlüsse fassen kann.
Nicht zu übersehen ist die politische Konkurrenz zwischen den Volksvertretungen der Mitgliedsländer und dem EU-Abgeordnetenhaus: Je mehr Zuständigkeiten die eine Seite hat, desto weniger Kompetenzen hat die andere. Die EU-Abgeordnete Roth-Behrendt kann der Tatsache durchaus viel abgewinnen, "dass in der Umweltpolitik und beim Verbraucherschutz inzwischen 90 Prozent der Entscheidungen in unserem Parlament getroffen werden". Von "Konkurrenz" mag indes niemand gern reden. Matthias Wissmann etwa spricht lieber von einem "gesunden Wettbewerb". Es sei ein "offener Prozess", wie sich das Verhältnis zwischen dem Bundestag und der Straßburger Deputiertenkammer entwickeln werde.
Die SPD-Politikerin Roth-Behrendt rät den Berliner Abgeordneten, sich in erster Linie gegenüber der Regierung von den Ministern bis zu einzelnen Fachabteilungen in den Ressorts mehr Geltung und so mehr Einfluss auf die Brüsseler Politik zu verschaffen.
"Der Europa-Ausschuss", sagt Vorsitzender Wissmann, "hat an Gewicht gewonnen." Immerhin zählt diese Instanz zu den wenigen Ausschüssen, die im Grundgesetz verankert sind und deren Einsetzung in jeder Legislaturperiode zwingend vorgeschrieben ist. Doch der Bundestag müsse bei der Kontrolle der EU-Kommission und des Europäischen Rats noch besser werden. Wissmann: "Unser Ausschuss sollte seine Kompetenzen offensiver wahrnehmen."
Karl-Otto Sattler ist freier Journalist in Berlin.