Seit 1994 legt das Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (WZB) öffentlich Zeugnis ab, auf welchen Feldern vor allem geforscht wurde. Die letzten drei "Tätigkeitsnachweise" widmeten sich dem Gemeinwohl, der Sozialen Marktwirtschaft in der neuen Weltwirtschaft und der Zukunft der Demokratie, - Themen, die zweifellos aktuell waren und sind und entsprechende Neugier weckten. Nicht anders verhält es sich mit dem jüngsten Jahrbuch, das sich des Begriffes "Zivilgesellschaft" annimmt.
Dieser Begriff hat in den vergangenen Jahren eine bemerkenswerte Karriere erlebt. Politiker verwenden ihn mit Vorliebe; die Wissenschaft hat sich auf ihn gestürzt, veranstaltet Tagungen und bereichert den Buchmarkt mit einschlägigen Publikationen. Das überrascht insofern, als nahezu alle Autoren des Jahrbuchs erkennen lassen, dass der Begriff "Zivilgesellschaft" nicht eindeutig definiert, ja eher umstritten ist. Die einen werfen ihm vor, allzu modisch zu sein, die anderen sehen in ihm ein Relikt des Kalten Krieges.
Aber es gibt natürlich auch Stimmen, die der Demokratie ohne eine funktionierende Zivilgesellschaft wenig Chancen geben. Im Jahrbuch lassen sich etliche Fixpunkte herauskristallisieren, auf die sich die Wissenschaft im Wesentlichen verständigt hat: Die Zivilgesellschaft hat ihren Platz zwischen Staat, Wirtschaft und Privatsphäre der Bürger. Sie organisiert sich in Netzwerken, Bewegungen und Initiativen. Ihre Aktivitäten sind auf das allgemeine Wohl ausgerichtet. Und: Zivilgesellschaftliches Handeln ist gewaltfrei.
Alle diese vermeintlichen Gewissheiten sind dennoch problematisierenden Nachfragen und beträchtlichen Abgrenzungsschwierigkeiten ausgesetzt. Die Grenzen haben sich im Verlauf der Geschichte immer wieder verschoben. Das verwundert nicht, denn von Zivilgesellschaft ist schon seit dem 18. Jahrhundert die Rede. Damals hatte der Begriff überwiegend eine anti-absolutistische Stoßrichtung. Als er in den letzten zwei Jahrzehnten eine Renaissance feierte, war eine antidiktatorische Tendenz zu erkennen. Deshalb sehen viele Forscher seine neue Blütezeit auch in engem Zusammenhang mit den Aktivitäten der Dissidenten in den Staaten Osteuropas und den Demokratiebewegungen in Südamerika. Dem folgt freilich schnell die Erkenntnis, dass die angestrebten Gewinne an Freiheit und politischer Partizipation oftmals nicht ohne den Einsatz von Gewalt erzielt worden sind.
Sven Reichardt bekräftigt in seinem Beitrag, dass sich ohne Konflikte ziviles Verhalten in einer Gesellschaft nicht herausbildet. Folgerichtig kennen auch westliche Zivilgesellschaften legitimierte Gewalt, sei es als Nothilfe oder Notwehr. Ausführlich widmet sich ein Beitrag den begrenzten Regelverletzungen und dem Thema Gewaltfreiheit im Zuge der deutschen Anti-Atomkraftbewegung. Ob letztlich zivilgesellschaftliches Handeln, wie es sich in der Anti-AKW-Bewegung ausdrückte, "das Kriterium gesetzlicher Rechtmäßigkeit" erfüllen muss, mag auch Ute Hasenöhrl nicht abschließend entscheiden. Sie registriert, dass offene Fragen bleiben, und gibt sich damit zufrieden, dass ziviler Ungehorsam wohl die ultima ratio einer Zivilgesellschaft sei.
Ausgiebig untersucht das Jahrbuch die Rolle des so genannten "Dritten Sektors", in dem sich Organisationen tummeln, die nicht nur zivilgesellschaftlichen Ansprüchen gerecht werden, sondern auch als Dienstleis-ter auftreten. Die Krise der westlichen Sozialstaaten hat diesen Sektor wachsen lassen. Die einschlägigen gemeinnützigen Organisationen sehen sich als Anwälte bedürftiger Bürger und als unentbehrlich an. Der forschende Blick der Jahrbuch-Autoren bleibt dabei nicht auf Deutschland oder Europa beschränkt - er geht auch auf Indien und die Balkan-Region.
Interessanter erscheint die grundsätzliche Frage nach der Transnationalität der Zivilgesellschaft. Sehr spezifisch untersuchen Wolfgang van den Daele und Rainer Döbert die Forderungen und die Mechanismen transnationaler Solidarität am Beispiel des Zugangs zu patentgeschützten Medikamenten. Lesenswert ist auch der Beitrag zum Stichwort "Medienlobbyismus", der sehr nüchtern beschreibt, wie der Erfolg und das Ansehen sozialer, zivilgesellschaftlicher Aktivitäten von der Präsenz in den Medien abhängt.
Abschließend sei auf den Beitrag von Hartmut Kaelble hingewiesen, der sich der spannenden Frage zuwendet, ob denn der Begriff der Zivilgesellschaft auch auf ein Staatengebilde wie die Europäische Union angewendet werden kann. Und es gibt einen weiteren Grund, diese Arbeit des Berliner Sozialhistorikers hervorzuheben. Der interessierte, aber im Umgang mit soziologischen Untersuchungen unerfahrene Leser hat wenigstens hier das Gefühl, dass dieser Beitrag nicht ausschließlich für die ja überschaubare Zahl von Fachkollegen geschrieben ist.
Dieter Gosewinkel, Dieter Rucht, Wolfgang van den Daele, Jürgen Kocka (Hrsg.)
Zivilgesellschaft - national und transnational.
Jahrbuch 2003 des Wissenschaftszentrum Berlin.
edition sigma, Berlin 2004; 438 S., 27,90 Euro