Silvester-Party 2003 in Berlin: eine Million Menschen singt, tanzt, lacht am Brandenburger Tor. Böller explodieren. "In diesem Moment habe ich gedacht, was wohl passieren würde, wenn sich hier mitten in der Menge ein Selbstmordattentäter in die Luft sprengt", sagt Benjamin, 24, Informatik-Student in Potsdam. Benjamin wird nicht der einzige gewesen sein, der irgendwann an diesem Abend, in diesem unübersichtlichen Getümmel feiernder Menschen, für Sekunden Gedanken an eine Katastrophe hatte. Andere zucken zusammen, wenn morgens auf dem Weg zur Arbeit die U-Bahn stockt und in der Dunkelheit stehen bleibt. Alle Anschläge der letzten Zeit haben sich schließlich gegen so genannte weiche Ziele gerichtet. Ziele wie etwa die Love-Parade, Symbol westlich geprägter, offen zur Schau gestellter Lebensfreude - wer könnte ein Blutbad verhindern, wenn in einem der abertausend Rucksäcke Sprengstoff statt Alkopops verborgen ist? "Wir können nicht davon ausgehen, dass Deutschland außerhalb solcher Ziele liegt", sagte Innenminister Otto Schily (SPD) kürzlich. Der islamistische Terror ist laut aktuellem Verfassungsschutzbericht die größte Bedrohung für die innere Sicherheit in Deutschland.
"Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war", hieß es nach den Anschlägen islamistischer Terroristen auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001. Tatsächlich hat sich einiges verändert. Der Wert Sicherheit ist für viele Menschen wichtiger geworden. Das drückt sich mit strengeren Gesetzen, mehr Polizeipräsenz, Einschränkung bestimmter Bürgerrechte aus. Deutschland ist keine Ausnahme. Bei beinahe jeder öffentlichen Veranstaltung gibt es mehr oder weniger strenge Eingangskontrollen. Die Flughäfen werden strenger überwacht als je zuvor. Auch außenpolitisch ist der Westen härter geworden. Viele Länder sind bereit, wie in Afghanistan Terrorismus mit kriegerischen Mitteln zu bekämpfen.
Der britische Islamwissenschaftler Bernard Lewis weist darauf hin, dass sich alle großen gewaltsamen Konflikte unserer Zeit an den Rändern der islamischen Welt abspielen. Der "Kampf der Kulturen", den der US-Politologe Samuel Huntington vorhergesagt hat, scheint Wirklichkeit geworden. "Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod" - grundlegender als in der Botschaft des Terrornetzwerks Al-Qaida nach den Anschlägen in Madrid im März kann dieser Kampf nicht zum Ausdruck gebracht werden. Der Krieg, den Terrorchef Osama Bin Laden erklärt hat, gilt nicht der politischen Klasse oder international operierenden Konzernen, sondern jedem Amerikaner, jedem Christen, jedem Juden und sogar jenen Moslems, die den Islamisten nicht fundamentalistisch genug sind. Jeder, der Zug fährt, der ein Kaufhaus, eine Disko oder einen Nachtclub besucht, ist ein potenzielles Ziel - die Anschläge in Madrid, Istanbul oder Bali haben es gezeigt. Bedroht sind einzelne Menschen und kollektive Werte, die dem islamistischen Terror ein Dorn im Auge sind. Zu diesen Werten gehören neben Grundsätzen wie Menschenrechten, Demokratie, Gleichberechtigung, Meinungs- und Religionsfreiheit auch vermeintlich profane Dinge wie Privateigentum, freier Handel, freier Konsum - und damit, wenn man so will, auch McDonald's. Werte, die die islamistischen Terroristen, die vielfach im Westen studiert und gelebt haben, offenbar von ihrer Liebe zum Tod nicht abbringen konnten. Nicht von ungefähr hat der amerikanische Soziologe Benjamin Barber eine Welt zwischen den Polen "Dschihad" und "McWorld" beschrieben. Ein Beispiel: Ein Viertel der weltweiten Ölproduktion, zehn Millionen Barrel Öl, werden allein durch die beiden Meerengen von Hormus und Malakka transportiert. Solche Lebensadern vor Terror zu schützen, ist für den Wes-ten - und damit auch für Deutschland - unverzichtbar. Im Kampf gegen den Terror geht es also um mehr als um die Sicherheit. Es geht um Werte. Ökonomische, aber auch ideelle.
In Europa und gerade in Deutschland gibt es dennoch viele Menschen, die sich zu "McWorld" nicht zugehörig fühlen. Die Globalisierung und der ungleich verteilte Reichtum auf der Welt sind für sie Ursachen des Terrors, die der Westen beseitigen müsse. Schon kurze Zeit nach den Fernsehbildern aus New York verblasste die "uneingeschränkte Solidarität" (Bundeskanzler Schröder) vieler Deutschen mit den USA. Der deutlichste Ausdruck der Distanz: Zwei Jahre nach den Anschlägen vermutete fast ein Drittel der unter 30-Jährigen, die US-Regierung habe den 11. September selbst inszeniert. Dennoch hatte jeder zweite vor einem Jahr Angst vor Anschlägen in Deutschland. "Schuld" sind für viele die Globalisierung im allgemeinen und die USA (und Israel, das 60 Prozent der Deutschen in einer Umfrage als die größte Gefahr für den Weltfrieden ansahen) im Besonderen.
Kriegseinsätze wie der in Afghanistan werfen zudem die Frage auf, ob der Westen nicht seine Werte aufgibt, Gefahr läuft, sich auf eine Stufe zu stellen mit den islamistischen Mördern.
Andererseits stellt sich die Frage, wo der Spielraum zum Nachgeben bleibt, wenn man es mit einem Gegner zu tun hat, der nicht verhandeln will, der nicht zu orten ist, der dezentral organisiert ist und dessen Ziel totale Vernichtung ist.
Dennoch: In den Leserbriefspalten, etwa der "Berliner Zeitung", wurde nach den Anschlägen von Madrid mehrheitlich die Auffassung vertreten, Deutschland sei solange vor dem Terror gefeit, wie sich die Bundesregierung im Kampf gegen den Terror zurückhalte und ein Gegengewicht für mehr Gerechtigkeit in der Welt setze.
Faktisch ist diese Haltung kaum zu begründen. Denn die Globalisierung ist kein amerikanisches Phänomen. Europa besitzt über die internationalen Aktienmärkte einen wachsenden Teil Amerikas - Daimler-Chrysler ist dafür nur ein Beispiel. Geschätzt drei Millionen Menschen arbeiten für deutsche Firmen im Ausland. Neun Prozent der Direktinvestitionen im Ausland kommen von deutschen Firmen. Das bedeutet Platz drei unter den Nationen der Welt.
Die Annahme, Deutschland sei in die Vor- und Nachteile einer vernetzten Welt weniger involviert als die USA, ist ebenso wenig haltbar wie der Glaube, es sei vom Krieg der Werte nur mittelbar oder gar nicht betroffen. Bei den Anschlägen auf Djerba und Bali waren Deutsche unter den Opfern. Auch unter den Toten des 11. September 2001 waren mindestens 30 Deutsche. Die Haupttäter bereiteten die Anschläge über Jahre hinweg in Deutschland vor. Der auf die Anschläge folgende Börsensturz hat deutsche Firmen ebenso getroffen wie der Passagierrückgang im internationalen Flugverkehr. Allein die Lufthansa musste mit 70 Millionen Euro Steuergeldern gestützt werden. Die weltweiten Verluste der Branche betrugen nach Schätzungen der internationalen Flugorganisation IATA rund 22 Milliarden Euro. Aber auch die armen Länder der Welt leiden unter dem Terror, nicht nur wegen des nachlassenden Tourismus in Länder wie Ägypten oder Tunesien. Nach wie vor sind ein Großteil der Todesopfer Muslime, wie bei den Attentaten in Nairobi oder im Irak. Jeder Anschlag steigert zudem die so genannten Transaktionskosten der internationalen Unternehmen und hemmt die Investitionsbereitschaft ausländischer Firmen - was direkte Auswirkungen auf den Lebensstandard in den betroffenen "Gastgeber"-Ländern hat.
Ein dritter Weg zwischen "Dschihad" und "McWorld" scheint demnach nicht nur für Europa schwer zu finden, geschweige denn zu gehen. Auch, weil die Terroristen kein Interesse an so einer Alternative haben. Es passt fast zu gut, dass Coca-Cola oder Pepsi in den Terrorlagern Afghanistans streng verboten waren. Die Softdrinks waren für Bin Laden das Symbol des verhassten Westens schlechthin - was ihn allerdings angeblich nicht daran hinderte, heimlich selbst ab und zu die braune Brause zu trinken.
Tobias Kaufmann ist Redakteur der "Jüdischen Allgemeinen" in Berlin.