Die Leute kamen zu uns, haben ihre Besprechungen gemacht, getrunken und dann sind sie joggen gegangen. Ohne zu schlafen sind sie zurück ins Büro. Das war normal", sagt Peri, die frühere Besitzerin des Jubinal. Das Jubinal war lange der angesagte Treffpunkt in Berlin-Mitte für die Mitte-Gesellschaft. Die gibt es heute nicht mehr.
Der Börsencrash hat nicht nur Geld vernichtet, sondern auch einem Lebensgefühl ein Ende gesetzt, das sich viele in einer neuen Realität nicht mehr leisten konnten. Vor der Frage, "wie bezahle ich meine nächste Miete?", mussten viele kapitulieren, denn es war eine Frage, die man nicht mit einer Stimmung beantworten konnte.
Dennoch hat die New Economy im Wirtschaftsleben so viel verändert, wie vorher gesellschaftspolitisch nur die 68er, in der Wirtschaft nur die Nachkriegsgeneration. "Das allerdings wird man erst in ein paar Jahren erkennen", sagt Jens Schlüter (Name geändert) Schlüter ist einer, der die New Economy so mitgemacht hat, wie der Verlauf der Aktienkurse war: Ein Leben in Ups and Downs. Heute steht er da, wo er vor 1999 angefangen hat. Er ist Unternehmensberater, verdient Geld, arbeitet hart und rechnet mit Zahlen, nicht mit Versprechen. Er spricht von Restrukturierung, Sanierung, Verschlankung. Er geht nicht mehr Austern schlürfen, sondern kauft Graubrot im Supermarkt, dazu abgepackte Wurst. Das Leben hat sich verändert. Seine Küche war früher ein unbenutztes Küchenstudio. Schön und teuer. "Ich habe dort nicht mal Kaffee gekocht. Für alles hatte ich externe Dienstleister", sagt Schlüter in seiner Beratersprache. Das war normal. Aber was ist schon normal? Graubrot ist auch irgendwie normal. Dafür hat der 39-Jährige jetzt wieder eine Freundin. Die Suche nach Inniglichkeit hat die Suche nach Abenteuer verdrängt. Allenfalls Affären waren damals angesagt. Denn schließlich ist das Leben eine Drehscheibe, und wer schneller dreht, lebt besser, dachte er damals.
Schlüter gründete Anfang 2000 mit zwei anderen eine AG. Die drei erwachsenen Männer in Turnschuhen versuchten Kapitalgeber für Internetfirmen im Silicon Valley zu finden. Sie lebten im "Jet", hatten ein "Office-Space" neben einer Garage im Tal der Zukunft. Die breite Straße davor war gesäumt von XXL-Plakatwänden. Darauf Werbung für Start-up-Unternehmen. Eins davon war ihres. Sie waren "on the loop", immer in Bewegung. Ein oder zwei Nächte nach den Meetings im Silicon Valley standen die Jungs wieder auf Berliner Partys, solchen, die auf Dachterrassen stattfanden. Da wurden die Ideen geboren. Am Morgen flogen sie nach München. Da wurde das Geld verdient. Und dann begann der Kreis von Neuem.
Irgendwann zwischendurch war ihre AG, die eben noch eine Minibude gewesen war, mehrere Millionen Mark wert, zumindest glaubten das die Venture-Capital-Geber, und die Hoffnung, die glaubte das auch. Hoffnung war Realität. Zumindest hatten sie alle damit verwechselt. "Alle haben geglaubt, du musst nur noch zwei, drei Jahre arbeiten und dann bist du über den Break-Even, und ab dann wird Geld gemacht", sagt Schlüter. Der Break-Even kam dann anders, als Absturz.
Als das Geld weg war, verging auch die Stimmung. Die Haltung blieb. "Ich habe das bewundert", sagt Peri. Auch sie ist eine Gründerin. "Keiner hat gejammert. Die Leute haben anschreiben lassen und später jeden Cent zurückgezahlt." Das Vermögen war anders als früher nicht über 30, 40 Jahre, über mehrere Generationen hinweg hart erarbeitet, es war schönes Geld, in einem schnellen Leben verdient. In einem Leben, das vor allem eins nicht sein sollte: spießig. Dieses Leben hat gerade mal zwei, bei manchen drei Jahre gedauert.
Nur ganz wenige haben aus ihren Kursen der Online-Accounts reale Werte gemacht, haben das Geld heraus gezogen, Immobilien gekauft, eine Riesterrente abgeschlossen oder einen Sparplan bedient. Das galt als langweilig. Das machten Leute, die Schlipse trugen, also welche, die wirklich nichts kapiert hatten, glaubten sie.
Sie wagten und sie verloren. Als die, die vollen Einsatz gefahren waren, nicht mehr zahlen konnten, musste eine Gründergeneration anschreiben lassen. Diese Generation hatte nicht nur an sich geglaubt, sondern auch an den wirtschaftlichen Erfolg. Die Jahrzehnte davor waren vor allem von Vorsicht, von Zögerlichkeit, geprägt gewesen. Man konnte es sich leisten, weil die Sozialsysteme sich einen leisteten. Man machte weiter, was Eltern einem vorgelebt hatten. "Morgens in die Arbeit, bloß nicht auffallen, schön sorgfältig sein, kein Risiko eingehen, Hierarchien achten. Kurz gesagt, am besten, weil am sichersten, Beamter werden", sagt Peri, die bis zur Geburt ihres Kindes jede Nacht bis fünf Uhr ihre Gäste bedient hat.
Mit ihrem Glauben an den wirtschaftlichen Erfolg haben die, die nicht von Problemen, sondern nur von Chancen redeten, viel gemein mit der Nachkriegsgeneration. Die Männer und Frauen der Stunde Null blockierten sich selbst nicht durch unternehmerisches Sicherheitsdenken. Wer damals pfiffig war, hatte Tauschware, konnte sich irgendwann ein Auto leisten und viel später sogar ein kleines Häuschen. Die deutsche Variante des amerikanischen Traums. Die Nachkriegsgeneration hat aus Ruinen Städte gebaut. Die Generation der New Economy hat aus Aktienkursen Schulden gemacht. "Aber sie hat nach Deutschland unternehmerischen Willen zurück gebracht", sagt René Griemens, Vorstand von Dooyoo. Darin ähneln sich die beiden Generationen.
Dooyoo ist eines der wenigen Unternehmen der Dotcom-Ära, die überlebt haben. Dooyoo bietet ein Portal an, auf dem Verbraucher zu verschiedenen Produkten ihre Meinung schreiben und über Partner-Shops diese auch gleich kaufen können. Griemens ist keiner von den stets gut gelaunten "Smileys". Er wirkt ernst. "Zurzeit", findet der Ökonom, "werden kaum noch Risiken eingegangen, damals wurde alles zu idealistisch gesehen". Griemens kam zu Dooyoo, kurz bevor die Krise kam. Gerade erst 36 Jahre alt, ist er dennoch ein Ökonom alter Schule. Er hat "restrukturiert", auf Deutsch heißt das entlassen.
Im Frühjahr 2000 wuchs der Laden, der sich im trendigen Berliner Bezirk Friedrichshain in einer Fabriketage eingerichtet hatte, monatlich, wöchentlich, täglich. Gerade erst ein dreiviertel Jahr alt, arbeiteten bei Dooyoo im Frühsommer 2000 bereits 185 Leute. Monatlich wurden neue Niederlassungen aufgemacht, erst Paris, Madrid und Rom, dann kam London hinzu. Die Mitarbeiter, die fast alle neu in die Stadt zogen, lebten mit ihrem Start-up. Alle saßen auf den zwei großen Etagen, verbunden durch eine Wendeltreppe. Mittendrin die Gründer. Chefs ohne Hierarchiedenken mit etwas mehr Verdienst. Ansonsten waren alle gleich. Morgens um neun kam man in T-Shirt und, wenn es heiß war, in Bermuda-Shorts ins Büro. Es wurden Brote geschmiert, dann ein bisschen gearbeitet. Mittags ging die New-Economy-Avantgarde in die Szenekneipen der Simon-Dach-Straße. "Danach haben einige Mitarbeiter lange Kicker gespielt", erinnert sich Griemens. Der Arbeitstag ging manchmal bis in die Nacht, aber immer bis 22 Uhr. Vorher verließ niemand die Firma. Samstags kamen alle ins Büro. Sowieso. Und auch der Sonntag war Arbeitstag. "Es gab dann Überlegungen vom Vorstand, den Sonntag als Arbeitstag zu verbieten. Aber es gab tatsächlich Mitarbeiter, die das nicht wollten", erinnert sich Griemens, der heute längst wieder einen Anzug trägt.
Die Devise aller Start-Ups war, schnell zu "skalieren", also zu wachsen, um die Plätze am Markt zu besetzen, um den Börsengang hinlegen zu können. Doo-yoo hat überlebt, weil es den Börsengang nicht schaffte. Der war für Juli 2000 geplant und von den Banken in letzter Sekunde abgeblasen worden. 1999 war noch alles vollkommen locker gewesen. Ohne Probleme bekam Dooyoo in der ersten Finanzierungsrunde 20 Millionen Mark: "Freitagabends haben wir vier Venture-Capitals angerufen und gesagt, wir kommen Montag nach München: Wollt ihr uns treffen und anlegen? Dann haben wir die Deadline gesetzt: Ihr habt bis Mittwochabend Zeit." So war die Stimmung. In der Finanzierungsrunde ein Jahr später hat Griemens monatelang am Telefon gehangen, um Investoren zu finden. "Plötzlich war das ein hartes Verkaufsgeschäft geworden." Den fünf Gründern, die Griemens noch von der Kölner Uni kannte, ging es wie den zehn kleinen Negerlein. Einer nach dem anderen musste aus der Firma gehen. Ihr Hauptjob Marketing hatte sich erledigt. Die Zahlen waren zu schlecht, die Gründer auf die Dauer dann doch zu teuer. "Wir sind immer noch befreundet, und darüber bin ich froh", sagt Griemens. Es klingt ehrlich.
Irgendwann ist Dooyoo nach Kreuzberg umgezogen, wieder in eine Fabriketage, dieses Mal mit vielen Räumen, die Türen haben. Der Kicker steht unbenutzt in der Ecke. "Wir kommen um neun Uhr und gehen in der Regel spätestens um 19 Uhr. Wenn danach noch jemand da ist, frage ich öfter mal warum. Es ist nicht gut, wenn man zu viel arbeitet", sagt Griemens. "Die Leistung fällt dann ab."
Die Mitarbeiter sind jetzt konzentriert. Griemens nennt es professionell. Von den 185 sind 22 übrig geblieben. Die werden allerdings nicht aus Venture Capital gezahlt wie 1999 und 2000, sondern aus dem Cashflow, das heißt aus dem, was die Firma wirklich erwirtschaftet.
Jetzt, wo die Umsätze entweder ganz fehlen und ganz nüchtern durch Arbeit am Markt gemacht werden, gleichen die einstigen Start-up-Unternehmen anderen traditionellen Firmen. Manche haben einen Betriebsrat, bei Dooyoo hieß das eine ganze Zeit lang Mitarbeitervertretung. Und auch die Züge der "sozialistischen Marktwirtschaft" sind einem "neuen Realismus" gewichen, wie Griemens es nennt. Natürlich wird nach Leistung bezahlt. Natürlich bekommt der mehr, der mehr verantwortet. Und noch etwas ist anders geworden. Die ersten Mitarbeiter von Dooyoo fahren ganz normale Autos und sind Vater geworden. Das wäre noch vor ein paar Jahren unvorstellbar gewesen. Denn normal, genau das, wollte nun wirklich niemand sein.