Man müsste nur hinter die Kulissen schauen können. Würden Sie in ein Lokal gehen, wenn Sie von vornherein wüssten, dass da nicht wirklich gekocht wird? Wohl eher nicht. Irgendwie erwarten wir doch, dass dort ein Koch für uns Kochlöffel und Sahnebesen schwingt. Doch das ist immer mehr die Ausnahme. Die Arbeit des so genannten Kochs besteht in vielen Gaststätten, Restaurants und Hotels häufig nur noch darin, dass er Dosen öffnet, Tüten und Plastikfolien aufreißt, kübelweise Massenware umrührt und das Ganze nur noch aufwärmt. Über 2.000 Restaurants - so berichtete das Fachblatt tk-report (tk steht für Tiefkühlkost) - bieten schon Paella aus der Kühltruhe an. Dabei braucht man nur noch Wasser oder - wenn das Fertiggericht mal richtig aufgemotzt werden soll - Fischsud hinzufügen. Ein bisschen frisches Grün zur Deko oben drauf, und nach wenigen Minuten kommt dann die dampfende, frisch aussehende Paella auf den Tisch. Man braucht also nicht mehr Koch gelernt zu haben, um eine Gaststätte betreiben zu können.
Doch haben Sie mal überlegt, wie es möglich sein soll, ein komplettes frisch gekochtes Essen für zehn oder zwölf Euro auf den Tisch zu bekommen? Denken Sie nur an die Personalkosten, die hinter einem guten, frischen Essen stehen. Dann der Wareneinsatz: frisches Gemüse, frische Salate und frisch gekauftes Fleisch vom Metzger am Ort. Das muss eben teurer sein als industriell vorgefertigte Ware. Es kann jedoch nicht im Interesse der Verbraucher sein, dass in Gasthäusern und Restaurants handwerkliches Kochen und Gemütlichkeit suggeriert werden, tatsächlich aber immer mehr Tütenkocher am Werk sind. Die Union der Spitzenköche Europas (Eurotoques) fordert deshalb zusammen mit der Umweltstiftung Euronatur eine Kennzeichnungspflicht für Fertigprodukte. Doch die boomende Branche denkt nicht daran, solchen Forderungen nachzukommen; das Geschäft mit der so genannten Convinience Ware (englisch für Annehmlichkeit, Bequemlichkeit) läuft wie geschmiert; egal wie viele Zusatzstoffe wie Haltbarkeitsmittel und Geschmacksverstärker auch hineingekippt werden.
Man braucht sich nur bei Fachmessen wie der Grünen Woche (Berlin), Intergastra (Stuttgart) oder der Anuga (Köln) mit wachen Augen umzuschauen. Es gibt nahezu nichts mehr, was es nicht gibt: Suppen, Salat- und Pastasoßen, Beilagengemüse, Chili con Carne, Chickenwings, Fischfilets, Sauerbraten oder Rehmedaillons in der passenden Soße, Scampi-Spieße, Gulasch, Cordon bleu, Fleischspieße oder Trockenei, das mit Wasser vermischt Rührei ergibt. Alles fix und fertig vorfabriziert. Selbst die Folien-Kartoffeln gibt es vorgegart. Sie brauchen nur noch im Kombi-Dämpfer aufgewärmt zu werden. Statt "Hier kocht der Chef" müsste es also in vielen Gaststätten längst heißen "Hier macht der Chef die Tüten und Kübel auf".
Das Ganze wird durch eine andere Entwicklung begünstigt: immer weniger Menschen können kochen. Schon jetzt haben wir es mit einer nicht kochenden Generation zu tun. Das lässt für die Zukunft keine Besserung erwarten. In den Schulen findet immer weniger Kochunterricht statt. Im Zuge ihrer allgemeinen Sparmaßnahmen haben Politiker schon vor Jahren bedenkenlos die Hauswirtschaft aus den Stundenplänen gestrichen, Schulküchen wurden vielerorts dicht gemacht. Eine fatale Entwicklung. Denn auf diese Weise wachsen neue Analphabeten heran, die zwar Lesen, Schreiben und Rechnen können, aber Analphabeten sind in Sachen Ernährung. Sie wissen nicht mehr, wo welche Vitamine drin stecken, haben keine Ahnung von Ballaststoffen und wozu Folsäure gut ist. Und sie sind unkritisch gegenüber Einheitsgeschmack und Zusatzstoffen. Schon bald haben wir die Diktatur der Tüte. Die Folgen sind Übergewicht und systematische Fehlernährung. Denn wer nicht kochen kann, ist auch nicht in der Lage, mit frischen Lebensmitteln umzugehen und sich richtig zu ernähren.
Das macht anfällig für das so genannte "processed food": Essen, das massenhaft industriell hergestellt wird. Und industriell massenhaft hergestelltes Essen bedeutet in der Regel Preisdruck auf die Landwirte, welche nur noch durch den Einsatz von Kunstdüngern, Pestiziden, Herbiziden und Fungiziden über die Produktion großer Mengen existieren können. So sind von Bremerhaven bis Berchtesgaden die Landschaften immer eintöniger, die Speisezettel der Familien - so denn überhaupt noch frisch gekocht wird - immer einfältiger geworden.
Das führt auf anderem Gebiet zu grotesken Vernetzungen. Noch heute gibt es keine Positivliste für das, was im Tierfutter enthalten sein darf. Und so gibt es immer noch genügend Hintertüren, um über das Tierfutter den Verbrauchern auch Altöle, Holzschnitzel, Lumpen und anderes unterzujubeln. Aber wer von den Deutschen, die sich in immer größeren Mengen Zuckerstoffe, Fette und andere billige Zutaten reinstopfen, macht sich darüber schon Gedanken.
Deshalb ist die flächendeckende Wiedereinführung des Faches Ernährungserziehung in allen Schulen erforderlich. Daneben ist es vordringlich, die Ursachen für die Probleme in der Landwirtschaft anzugehen, anstatt nur an Symptomen herumzudoktern. Die heutigen, längst aus dem kollektiven Bewusstsein verbannten BSE-Tests sind ja letztlich nichts anderes als eine "End of the pipe technology" bei der Nahrung. So wie man jahrzehntelang Wasser erst am Ende der Nutzungskette gereinigt hat, um Flüsse und Seen nicht zu Kloaken werden zu lassen, anstatt Verschmutzungen durch geschlossene Kreisläufe in der Industrie erst gar nicht entstehen zu lassen, bedeuten auch die BSE-Tests und viele andere Überwachungsinstrumentarien nur Reagieren statt vorausschauendem Agieren. Hier spielt das schwindende Bewusstsein der Konsumenten landwirtschaftlicher Massenproduktion und industrieller Verarbeitung eine zentrale Rolle. Denn die Lebensmittel sollen immer billiger sein. Gaben die Deutschen um 1965 pro Familie noch rund 35 Prozent des Jahreseinkommens für Lebensmittel aus, sind es heute gerade noch rund 14 Prozent. Sind wir uns selbst nichts mehr wert?
Das Grundproblem: nicht mehr in, sondern nur noch an der Landwirtschaft wird verdient. So dienen auch Bestrebungen der Gentechnik keinesfalls der immer wieder hoch gehaltenen Qualitätssteigerung der Waren, sondern letztlich der längeren Lager- und Verarbeitungsfähigkeit. Auch hier stecken knallharte Interessen der verarbeitenden Industrie und nicht Verbraucherfragen dahinter. Doch die verhängnisvolle Verflechtung von Massenproduktion, industrieller Agrarwirtschaft und einer rapiden Erosion des Wissens rund ums Essen und Kochen scheint kein Ende zu finden. Ein Teufelskreis ist die Folge: je mehr produziert wird, umso mehr purzeln die Preise, und je mehr die Preise einbrechen, umso mehr wird produziert, um den Verlust durch Ertragssteigerungen wettzumachen. Die Folge: während der Bedarf nach Nahrungsmitteln innerhalb der EU pro Jahr jeweils um kaum mehr als ein halbes Prozent wächst - denn schließlich können wir nicht immer mehr essen - waren durchschnittliche Ertragssteigerungen von zwei Prozent in fast allen Sparten der Landwirtschaft keine Seltenheit. Seit 1950 haben sich die durchschnittlichen Erträge auf den
Äckern verdoppelt. Zugleich haben sich die Bestandszahlen vieler Tier- und Pflanzengruppen halbiert. Anstatt die Produktivitätsschraube ein wenig zurück zu drehen, Rinder wieder langsamer auf der Weide zu mästen, anstatt die Tiere in den Ställen mit Maissilage und billigem, importierten und fragwürdigen Kraftfutter in kurzer Zeit voll zu stopfen, anstatt den Tieren und der Natur im wahrsten Sinne wieder mehr Raum zu geben, anstatt überall wieder extensiver zu wirtschaften und auch wieder mehr Arbeitskräfte in der Landwirtschaft zu beschäftigen, setzt man auf den Weltmarkt und weiteres Wachstum. Warum? Wohl weil eine Verringerung der Produktion nicht in die Philosophie von Wachstumsfetischisten passt, für die Legehennen keine Tiere, sondern Produktionsfaktoren wie Schrauben sind. Und weil es viele Gewinner in diesem Prozess gibt: die chemische Industrie, die Saatguthersteller, die Stallbauer, die Maschinenhersteller, die Lebensmittelkonzerne.
Claus-Peter Hutter ist Präsident der Internationalen Umweltstiftung Euronatur und leitet hauptamtlich die Umweltakademie Baden-Württemberg. Zusammen mit Volker Angres und Lutz Ribbe hat er den Lebensmittelreport "Futter fürs Volk - was die Lebensmittelindustrie uns auftischt" (Droemer-Knaur-Verlag) verfasst.