Verfassung ist ein großes Wort. Es entfaltet eine politische Sprengkraft, weil es nach der überkommenen Begriffslehre untrennbar mit dem Staat zusammenhängt: Wo keine Verfassung, da kein Staat. Wie fügt sich Europa in dieses Raster? Das Gebilde, das mit den Römischen Verträgen als Wirtschaftsgemeinschaft entstand, strebte schon immer nach mehr. Mittlerweile ist es eine Währungs- und Wirtschaftseinheit, deren Organe auf vielen Gebieten Recht setzen und unmittelbar - wenn auch meist im verborgenen - Einfluss auf das tägliche Leben der Bürger nehmen. Die Europäische Union ist also weit mehr als ein loser Bund von Staaten, die auf bestimmten Gebieten zusammenarbeiten. Sie ist jedoch offenbar auch kein Bundesstaat, in dem etwa Deutschland und Frankreich Gliedstaaten wie die deutschen Bundesländer wären. Das entspricht weder dem Selbstverständnis der Union noch dem ihrer Bürger. Das Bundesverfassungsgericht erfand deshalb im Maastricht-Urteil den Ausdruck "Staatenverbund". Damit wird die Zwitterstellung und Neuartigkeit der Gemeinschaft zum Ausdruck gebracht.
Was ändert sich mit dem Verfassungsvertrag? Wird dieses Dokument, auf das sich die Staats- und Regierungschefs auf der Grundlage des Konventsentwurfs geeinigt haben (die Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten steht noch aus) die Europäische Union auf eine neue Stufe heben? Ist das die vielfach beschworene Neugründung Europas? Ein nüchterner Blick zeigt: Versteht man eine Verfassung als Grundordnung eines Gemeinwesens, dann ist die Gemeinschaft längst verfasst. Die Verträge legen die Kompetenzen der Organe fest, sie bestimmen das Zusammenwirken von Mitgliedstaaten und Union. Sie geben dem ganzen einen Rahmen, der viele Funktionen einer klassischen Verfassung erfüllt. Das ist eine europäische Ordnung - auch wenn viele darin eher Unordnung sehen. Einen Qualitätssprung gab es mit dem Vertrag von Maastricht. Die Einigung auf eine immer enger werdende Union, der Verzicht auf die Währungshoheit, das konnte als Auflösung der Nationalstaaten verstanden werden. So waren auch die Reaktionen: In den Staaten, in denen keine Volksabstimmungen vorgesehen waren, da wurden sie gefordert. In Deutschland hielt das Bundesverfassungsgericht den Maastricht-Vertrag für zulässig. Es stellte aber klar: Unter dem deutschen Grundgesetz müssen dem Parlament substantielle Rechte bleiben. Eine Union, die sich selbst Kompetenzen schaffen könnte, in der also die Mitgliedstaaten nicht mehr Herren der Verträge wären, ist demnach verfassungswidrig.
Was folgt daraus für den Verfassungsvertrag? Zunächst ist es ein Vertrag. Formal gesehen handelt es sich um die nächste Vertragsänderung nach der von Nizza. Auch wird an der Rolle der Mitgliedstaaten festgehalten. Nur sie sollen bestimmen, was für Kompetenzen die Gemeinschaft erhält. Die Union kann sich nicht selbst ermächtigen. Doch auch das ist zunächst eine formale Betrachtung. Einen schleichenden Kompetenzverlust der Mitgliedstaaten zugunsten der Union hat es auch schon früher gegeben. Die Kommission ist als Motor der Gemeinschaft stets versucht gewesen, auf allen Feldern mitzumischen, also etwa Gesundheitspolitik im Namen einer Harmonisierung des gemeinsamen Marktes zu betreiben. Der Europäische Gerichtshof hat sich als zuverlässiger Wächter des Gemeinschaftsrechts, aber auch mitunter als Grenzverletzer in Kompetenzfragen erwiesen. Daran wird sich nichts ändern.
Wird Europa wenigstens transparenter und bürgernäher? Zweifel sind angebracht. Der Verfassungstext ist keine leichte Kost. Es ist sicher zuviel verlangt, wollte man die hochkomplexen europäischen Verflechtungen, wie sie sich in den vergangenen Jahrzehnten nun einmal herausgebildet haben, nun in 20 knappe Artikel pressen. Man mag es bedauern, wie sehr sich der Artikelwust unangenehm vom Gründungsdokument der Vereinigten Staaten von Amerika unterscheidet - auch wenn sich die Gemeinsamkeiten beider Gebilde in Grenzen halten. Transparenter ist die Union jedenfalls kaum geworden, bürgernäher wohl auch nicht - obwohl genau das vom Verfassungskonvent gefordert worden war. Einen Kompetenzkatalog, wie ihn sich deutsche Politiker gewünscht hatten, gibt es nicht. Andererseits ist durchaus das Bemühen erkennbar, ein zentralistisches Monster zu verhindern, als das mancher - nicht nur in Großbritannien - die EU ansieht. Doch es ist nicht viel einfacher geworden zu verstehen, wer wofür in der Union zuständig ist und auf welchem Wege die Entscheidungen gefällt werden.
Demokratie war eines der Zauberworte, unter denen der Verfassungskonvent angetreten war. Undemokratisch war die Gemeinschaft freilich nie. Immerhin entschieden demokratisch gewählte Regierungen. Und ein supranationales Gebilde kann nicht im gleichen Maße die Vielfalt der Bürger abbilden und repräsentativ sein wie ein nationales Parlament, ohne an die Grenzen seiner Arbeitsfähigkeit zu stoßen. Nur wurde die Legitimationskette zwischen Bürger und Entscheider immer länger; wurden die Verantwortlichkeiten immer unklarer. Aber gibt es nicht ein Europäisches Parlament? In der Tat, und man findet kaum einen Politiker, der sich nicht für dessen Stärkung ausspricht. Seine Mitentscheidungsmöglichkeiten wurden kontinuierlich ausgeweitet. Für den Bürger bleibt es gleichwohl problematisch, dass die europäische "Volksvertretung" kein Initiativrecht zur Gesetzgebung hat. Zudem gibt es - trotz aller Versuche einer Eindämmung - mehr Raum für Mehrheitsentscheidungen. Im Grunde ist das zweifellos ein urdemokratisches Prinzip, auf das schon der Vorspruch des Verfassungsvertrages hinweist. Aber was für eine Folge hat es, wenn etwa gegen den Willen der Bundesregierung in Brüssel Regeln auf wichtigen Rechtsgebieten beschlossen werden, die vor allem Deutschland betreffen? Da hilft auch das bis zum Schluss heiß umkämpfte, aber keineswegs transparente Prinzip der "doppelten Mehrheit" wenig.
Symptomatisch für den Zustand Europas ist der Streit über den (fehlenden) Gottesbezug in der Präambel der Verfassung. Zu Recht stellten viele - vom Papst bis zu den Grünen - die Frage nach den ethischen Grundlagen der Gemeinschaft. Nur wer weiß, auf welchem Fundament er steht, kann sinnvoll darüber entscheiden, wer noch alles zu Europa gehören soll. Schon die jetzige Erweiterungsrunde hat deutlich gemacht: Entgegen der offiziellen Propaganda ist die Aufnahme vieler neuer oder andersartiger Mitglieder und die gleichzeitige Vertiefung der Gemeinschaft kaum zu bewältigen. Zum anderen war die Debatte über die religiösen Wurzeln Europas ein bequemes Mittel, um sich nicht mit den komplizierten institutionellen Veränderungen befassen zu müssen.
Das Gegenstück zur feierlichen Präambel ist die Austrittsklausel. Sie gab es in den bisherigen Verträgen nicht. Der nicht zuletzt auf Drängen der osteuropäischen Neumitglieder eingefügte Passus zeigt eine neue Nüchternheit. Auch bisher konnte natürlich niemand zum Verbleib in der Gemeinschaft gezwungen werden. Aber der geordnete Austritt ist neu. Er passt nicht so recht zu den Beschwörungen einer auf ewig geschlossenen Schicksalsgemeinschaft.
In welcher Verfassung ist also Europa? Das neue Dokument zeichnet das Bild einer institutionell gestärkten Organisation mit einem für eine längere Zeit gewählten Präsidenten des Europäischen Rates, einem europäischen Außenminister und einem mächtigeren Parlament. Ob der alte Kontinent dadurch gestärkt und handlungsfähiger wird, wird der politische Praxis-test zeigen. Auch die Verfassung ermöglicht ein Europa verschiedener Geschwindigkeiten, nicht zuletzt in der Außen- und Sicherheitspolitik.
Vor allem aber bleibt die Frage unbeantwortet, wohin Europa treibt. Die Mitgliedstaaten haben die Finalität ihres Projekts unbeantwortet gelassen. Dabei kann man genau das von einer Verfassung erwarten. Von einer Neugründung Europas wird man deshalb schwerlich sprechen können. Womöglich hat die Verfassungsdebattte Aufschluss darüber gegeben, dass sich "mehr Europa" nicht verordnen lässt. Denn das letzte Wort nicht nur über diesen Vertrag, sondern auch über die weitere Zukunft Europas haben die Parlamente und vor allem die Bürger.