Woher stammen Retrotrends? Erst waren die Sixties in, dann galten die Seventies als chic, worauf die 80er folgten. Immer schneller dreht sich die Retro-Rotation und arbeitet sich an vergangenen Stilepochen ab. Zunächst wurden Kleidung, Musik und Mobiliar recycelt und neu aufgelegt. Dann kamen die Fernsehshows, in denen sich Prominente der ach so guten, alten Zeit erinnerten. Auch in der Politik spielt Retro neuerdings eine Rolle. Viele fühlen sich beim Anblick einiger Alt-Politiker auf den aktuellen Wahlkampfbühnen und bei den Montagsdemos gegen Hartz IV ein gutes Jahrzehnt zurückversetzt. Die gegenwärtigen "Nuller Jahre", kaum dass sie begonnen haben, setzen offenbar zur großen Rolle rückwärts an und scheinen sich als Retrotrend selbst nachzuahmen. Doch was dann? Aller Voraussicht nach wird die Zeitgeschichte zum Stillstand kommen und wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Oder etwa nicht?
Längst macht die Wirtschaft mit dem Trend in die Vergangenheit ein gutes Geschäft und holt alte Produkte aus der Versenkung hervor. Fanta, Tri Top, Brauner Bär, Creme 21, Nostalgie-Uhren und Füllfederhalter mit Kolbenmechanik - das aktuelle Warensortiment schwärmt von den alten Zeiten. Trendsetter stellen beim Handy den Klingelton "Old Phone" ein, der an die Phase erinnert, als Telefone noch Kabel und Wählscheiben hatten und vor sich hin schnarrten. Diese nostalgische Sehnsucht nach der Vergangenheit korrespondiert offenkundig mit dem rasanten technologischen Fortschritt, ist eine Reaktion darauf. Je mehr Digitalisierung und Vernetzung, desto größer der Wunsch nach Innehalten und Zurückblicken. In einer globalisierten Welt sind die alten, vertrauten Produkte zum wertvollen Bestandteil der eigenen Identität geworden. Deshalb sind Retro- und "Ostalgie"-Shows, in denen sich wehmutsvoll erinnert wird, im Fernsehen so erfolgreich. Ausgeblendet bleiben dabei sowohl das politische Umfeld als auch das gesellschaftliche Klima, in denen sich damals alles abspielte. Retro ist immer auch Weltflucht und Zukunftsangst zugleich - den Wunsch, die Welt zu belassen, wie sie einmal war, beziehungsweise wie man sich an sie erinnert.
Einer, der die 60er- und 70er-Jahre nicht nur durchlebte, sondern sie maßgeblich mitgestaltet hat, ist Luigi Colani. Dem heute 75-jährigen deutschen Stardesigner ist in der Karlsruher Nancyhalle eine Ausstellung gewidmet, die sein umfangreiches Gesamtwerk umfasst. Bekannt geworden für eine unverwechselbare Handschrift, die dem Organischen huldigt und den rechten Winkel scheut, hat Colani eine ausgesprochene Abneigung gegen Spitzen und Kanten entwickelt. Seine Ästhetik ist im Windkanal entstanden und um die Ecke gedacht - Aerodynamik und Ergonomie lautet ihre Losung, fließende Linien und schmeichelnde Rundungen sind ihr Programm. Colanis "biomorphe" Formen stammen aus einer Zeit, als das Design noch eine Utopie hatte. In den 60er- und 70er-Jahren pros-perierte die deutsche Wirtschaft, und der Zukunft waren keine Grenzen gesetzt. Die Massenkultur verlangte nach einer Formensprache, die zugleich Modernität ausstrahlte und Einzigartigkeit.
Luigi Colani kam dem auf überaus extravagante Weise nach. Seine Werke sind Ausdruck des gesellschaftlichen Fortschrittswillens, der sich damals bevorzugt in Kunststoff materialisierte, auch wenn stilistisch die Natur nachempfunden wurde. "Organic Design", nennt Colani seinen Ansatz und ist überzeugt, "dass die Natur bereits alle Design-Aufgaben vorbildlich gelöst hat." Gerne dürfen seine Objekte aber auch ein bisschen Mondfahrt und eine gute Portion Science-Fiction ausstrahlen. Wie etwa die knallrote Poggenpohl-"Kugelküche" von 1970, die wie ein Satellit außen an ein ellipsenförmiges Wohnmodul anzudocken war und im Innern einer Raumstation gleicht. Erkennbar hatte Colani sich dabei von Raumfahrt und futuristischen Filmen inspirieren lassen.
Von erotischen Sushi-Schalen und einem mehr als sinnlichen Teekannen-Set über Brillen, Brieföffner und Biergläser bis zu Stühlen, fahrbaren Mobilen und einem sehr eigenwilligen Konzertflügel für die Firma Schimmel reicht die Palette der etwa 1.000 Exponate in der Karlsruher Ausstellung. Selbstbewusst gruppiert Colani sein Werk neben dem von Verner Panton sowie Ray und Charles Eames ein, weiteren Ikonen des 60er- und 70er-Jahre-Designs. Dass er neben solchen internationalen Größen bestehen kann, dafür hatte Colani immer selbst gesorgt: Unvergessen sind seine vielen Talkshow-Auftritte, bei denen der stets in Weiß gewandete, mit schulterlangem Haar und einem Zwirbelbart versehene Designer sich als Künstlergenie in Szene setzte. Abgehoben war Colani aber nie, im Gegenteil: Er war sich für nichts zu schade. Selbst ein spaciges Bügelbrett und einen Eimer "Colani weiß - Die Innenfarbe" ziert sein Konterfei und Schriftzug.
Viele von Colanis Ideen sind heute Massengut geworden: Die weichen Formen der Canon-Kleinbildkamera T90 sind wohl bekannt. Vom Jugendstil inspirierte Sektgläser mit rosé-farbigem Stiel - Colani hat sie neu aufgelegt. Auch die leichte Drehung des schicken Flaschenkörpers von Gaensefurther-Mineralwasser geht auf sein Konto. Für Firmen wie Villeroy & Boch, Boeing, VW, BMW und Rockwell hat der Unermüdliche ebenso gearbeitet wie für DaimlerChrysler in Wörth, wo er noch heute als Produktdesigner tätig ist.
Colanis aktuelles Schaffen, aus dem Jahr 2003, umfasst eine Teppichkollektion für einen Karlsruher Hersteller. An stabilen Metallarmen hängen die großformatigen Stücke zum Umblättern wie im Poster-Shop. Man kann sie in der Ausstellung gleich bestellen. In den geschwungenen Linien und dezenten Farbläufen offenbart sich die modische Aktualität von Colanis Werk. Mühelos knüpft der Bodenbelag an die gegenwärtige Retrowelle der 70er-Jahre an, als deren Inkarnation das Design Colanis heute erscheinen muss. In dem Maße jedoch, wie dieses Design damals avantgardistisch war und den gesellschaftlichen Fortschrittswillen ausdrückte, ist es heute Zeichen für den gesellschaftlichen Stillstand und die Mutlosigkeit, die sich bis in die Ästhetik hinein breit gemacht hat. Dafür kann Luigi Colani freilich nichts - es ist ein Zeichen der Zeit.
"Colani - Das Gesamtwerk" - Ausstellung in der
Nancyhalle am Kongresszentrum, Karlsruhe.
Bis 31. Dezember 2004. Im Internet: www.colani.de