Es hatte so gut angefangen: Nur sieben Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, und gerade einmal drei Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes hatte die Bundesrepublik am 27. Mai 1952 in Paris gemeinsam mit Frankreich, Italien und den Beneluxstaaten den Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) unterzeichnet. Dieser sah vor, dass die nationalen Streitkräfte jener Länder - darunter eben auch die zukünftige deutsche Armee - unter einen gemeinsamen Oberbefehl gestellt würden: ein wichtiger Schritt auf dem Weg, ein militärisches Gleichgewicht in Europa herzustellen, und ein deutliches Signal für die Vereinigung Europas.
Doch dann kam der 30. August 1954, ein "schwarzer Tag für Europa", wie ihn Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) bewertete: In der französischen Nationalversammlung scheitert der EVG-Vertrag; die Bedenken gegen eine supranationale Armee und die damit verbundene Aufgabe von Teilen der nationalen Souveränität waren doch zu groß. Rasch mussten nun Alternativen gefunden werden, wie Deutschland im immer frostiger werdenden Kalten Krieg militärisch aufgewertet werden konnte. In London setzen sich ab dem 28. September die Vertreter von sieben westeuropäische Staaten, der USA sowie Kanadas an einen Tisch und suchten nach Lösungen. Am Sonntag, 3. Oktober, um genau 15.45 Uhr britischer Zeit, war es soweit: Die Tinte unter das als "Londoner Akte" bekannt gewordene Dokument konnte trocknen. "Ein neues Fundament ist nun errichtet", kommentierte Friedrich Kippenberg in dieser Zeitung.
In der Tat handelte es sich um eine Weichenstellung: "Sobald als möglich" sollte das für die Bundesrepublik noch geltende Besatzungsstatut beendet werden, sicherten Frankreich, die USA und Großbritannien zu. Zweitens wurden Italien und West-Deutschland "eingeladen", dem erweiterten Brüsseler Vertrag beizutreten. Wichtiger noch: die Bundesrepublik soll auch Mitglied der NATO werden. Drittens verpflichtet sie sich, die Grundsätze der UN-Charta zu beachten und insbesondere die Wiedervereinigung Deutschlands nicht gewaltsam zu erstreben. Zudem verzichtet die Bundesrepublik auf die Herstellung von atomaren, biologischen und chemischen Waffen. Geregelt wird auch die Truppenstärke der deutschen Streitkräfte im Rahmen der NATO: 400.000 Mann Heer, 80.000 Mann Luftwaffe mit 1.000 Kampfflugzeugen, 20.000 Mann Marine - eine überaus stattliche Zahl.
Der Streit, ob Westbindung und Aufrüstung der richtige Kurs für die junge Republik sei, findet wenige Tage später seine Fortsetzung im Bundestag. Am 5. Oktober gibt Kanzler Adenauer - damals gleichzeitig in Personalunion auch Außenminister - eine Regierungserklärung ab. Er verteidigte das rasche Handeln der westlichen Regierungen: "Die Gefahr, dass in Europa ein politisch und militärisch unbestimmter Raum, ein Vakuum entstehen könnte, musste so schnell wie möglich abgewendet werden." Der Kanzler verteidigte seine Politik der Westbindung und erklärte, dass seine wichtigsten außenpolitischen Ziele - Herstellung der Souveränität, Wiedervereinigung und eine europäische Gemeinschaft - nur durch die Zusammenarbeit "mit den freien Nationen" erfolgreich sein könne. Die Bundesrepublik hätte in Zeiten großer internationaler Spannungen ein "ungewöhnliches Maß an Vertrauen" erringen können, so Adenauer. Die Ergebnisse der Londoner Konferenz seien auch ein Symbol für die "Partnerschaft Deutschlands in einer weltweiten Gemeinschaft freier und mächtiger Staaten". Mit der Londoner Akte sei "die Einheit des Westens wiederhergestellt worden".
Oppositionsführer Erich Ollenhauer (SPD) bezeichnete in der zwei Tage später folgenden Aussprache die Wiedervereinigung Deutschlands als vordringlichstes Ziel der Außenpolitik. Eine erneute Initiative in dieser Richtung habe höchste Priorität. Der SPD-Vorsitzende kritisierte die geplante Aufrüstung, die einer Annäherung beider deutscher Staaten zumindest nicht förderlich sei: ein "deutscher Verteidigungbeitrag" sei zudem "nicht mehr von der gleichen Dringlichkeit" wie vor einiger Zeit. Vielmehr solle man verstärkt die "wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zusammenarbeit der europäischen Völker" fördern.
Ende Oktober 1954 werden, wie in London beschlossen, auf vier Konferenzen in Paris die Beziehungen zwischen den Staaten der "westlichen Gemeinschaft" neu geregelt und die Empfehlungen umgesetzt. Aus dem Brüsseler Vertrag entsteht die Westeuropäische Union (WEU), die an Stelle der EVG tritt. Am 9. Mai 1955 tritt die Bundesrepublik der NATO bei und erhält gleichzeitig die sehnlich erwartete Souveränität. Bert Schulz