Lexika gehören zu den heiligen Schriften des wissenschaftlichen Zeitalters. Spätestens seit den französischen Enzyklopädisten um Diderot und d'Alembert, seit der Mitte des 18. Jahrhunderts also, liefern sie die säkularisierte Botschaft für den wissbegierigen Bürger. "Eine ganze Milchstraße von Einfällen" entdeckte schon der Göttinger Physiker und Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg (1742/99) in den mit aufklärerischem Gelehrtenfleiß zusammengestellten Nachschlagewerken seiner Zeit.
Inzwischen hat das Wissen in allen Lebensbereichen erheblich zugenommen. Die Informationsflut bringt eher Unübersichtlichkeit mit sich. Damit wird es für Lexikon-Redaktionen noch schwieriger, aus der vorhandenen Materialfülle zwischen blanker Beliebigkeit und einem imaginären Bildungskanon gerade das auszuwählen, was als wissenswert gelten kann.
Abgenommen hat dagegen bereits vor Jahrzehnten das Pathos des erhobenen Zeigefingers, der kurios klingende Ton aus Opas Enzyklopädie. Wie solche Artikel damals formuliert waren, als diese Art von Literatur auch handfeste Lebenshilfe vermitteln wollte, kann nicht allein in antiquarischen Restexemplaren, sondern jetzt gleichfalls am PC-Monitor nachgelesen werden.
Dazu braucht man nur die DVD "Meyers Großes Konversations-Lexikon" in das Laufwerk legen. Mit ein paar Mausklicks gelangt man 100 Jahre zurück in die durch Kaiser Wilhelm II. geprägte Epoche und wird beispielsweise unter dem Stichwort "Motorwagen" an die Anfänge des Autofahrens erinnert: "Nicht langsam dahinbummeln, aber auch nicht rasen, sondern ein Mitteltempo, und zwar systematisch morgens und mittags, im Sommer und Winter bei jedem Wetter, wenn nötig mit Brille, Lederhandschuhen, Pelz etc. ausgerüstet. Infolge der wohltuenden Wirkung auf die Nerven finden wir gerade unter den Gehirnarbeitern enthusiastische Anhänger des Motorwagens."
Um diesen 100. Band der "Digitalen Bibliothek" fertigen zu können, musste das Team von Directmedia Publishing erst ein neuartiges Verfahren zur Texterkennung entwickeln; denn Meyers 20-bändiges Konversations-Lexikon erschien 1905/09 in Frakturschrift und sollte ja für den heutigen Gebrauch in die uns gewohnten Antiqua-Zeichen übertragen werden. Die technisch keineswegs leichte Umsetzung haben die Software-Spezialisten aber problemlos geschafft.
Das Ergebnis ihrer kniffligen Arbeit ist eine großartige DVD, die sowohl das eingescannte Faksimile als auch den bearbeiteten Volltext präsentiert. Wer diese Edition heute elektronisch aufblättert, der kann unter 155.000 Stichwörtern und ungefähr 10.000 Abbildungen auswählen. Allesamt führen sie zu einem umfassenden Panorama, das zugleich ein zeitgeschichtliches Dokument aus der vorletzten Jahrhundertwende ist.
Mit dem Konzept - bereits erschienene Werke ohne redaktionellen Eingriff zu digitalisieren - hat der in Berlin-Kreuzberg ansässige Verlag beständigen Erfolg. Der Vorteil seiner Produkte liegt auf der Hand, besser gesagt: im Laufwerk. Dort drehen sich Scheiben mit anspruchsvollem Inhalt, die zudem ein bedienerfreundliches Recherchieren am Bildschirm ermöglichen. Bislang am meisten gekauft wurde die Anthologie "Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka"; und vor zwei Jahren war die CD-ROM "Wahl 2002" (mit den Programmen sämtlicher Parteien) vorübergehend ein Bestseller.
In diesem Herbst kommt unter anderem eine Quellensammlung über den ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963/65) heraus. Sie enthält neben den Protokollen reichlich Fotomaterial und Tonbandmitschnitte. Zu noch weiteren Projekten bei Directmedia Publishing befragt, meinte Verlagssprecherin Gertraud Götz: "Möglichen Trends folgen wir nur dann, wenn sie den Recherchemöglichkeiten einen entscheidenden Clou hinzufügen. Für uns sind Entwicklungen im Bereich der Speicherkapazität von Datenträgern wichtiger als Moden der Software-Gestaltung."
Ganz anders dagegen sieht es bei den Marktführern im Bereich der aktuellen Nachschlagewerke aus. Hier spielt das Produktdesign eine wesentliche Rolle. Das fängt bereits bei der äußeren Hülle an. Sowohl die "Encarta" von Microsoft als auch der "Brockhaus multimedial" stecken in ziemlich großen Verpackungskartons. Die Software selbst ist natürlich ebenfalls effektvoll gestaltet. Beide Redaktionen haben alle Register gezogen, die momentan zur Verfügung stehen: Aussprachehilfen, Ton- und Filmdokumente, Musikclips, Videos, animierte Graphiken, 3D-Darstellungen und selbstverständlich Web-Links. Außerdem wurden die jährlichen Neuauflagen stets durch Zusatzangebote erweitert.
Mit ihren Lexika allein können sich die Konkurrenten kaum mehr überbieten; sie sind mittlerweile von A bis Z solide ausgereift. Microsoft präsentiert in seiner "Encarta", die bisher ja schon Unterstützung beim Erstellen von Referaten leistete und Tips für spezielle Unterrichtsthemen parat hatte, einen eigenen Programmbereich für noch jüngere PC-Nutzer: eine Enzyklopädie für Kinder ab sieben Jahre, bilderreich angelegt und mit leicht verständlichen Texten versehen.
Auch der etwas teurere "Brockhaus multimedial" ist populärwissenschaftlich konzipiert und für ein breites Publikum gedacht. Wobei das Interesse an ihm sicher nochmals zunimmt, denn von diesem Herbst an läuft die DVD ebenso auf den Betriebssystemen Linux und Mac OS. Nach relativ schneller Installation hat man mit der "Premium-Version 2005" Zugriff auf einen Textkorpus aus circa 17 Millionen Wörtern (Encarta/Professional: fast 20 Millionen), auf fast 20.000 Illustrationen und auf bestes Infotainment: Beispielsweise können geographische Kenntnisse am Computer spielerisch verbessert werden; dazu sind beim neu angebotenen "Länderpuzzle" verschiedene Kartenumrisse bestimmten Staaten oder Städten zuzuordnen.
Noch leichter als bei dem unterhaltsamen Erdkunde-Test ist eine Lösung gefunden, wenn auf der Brockhaus-Startseite über die Profi-Suche ein Stichwort eingetippt wird - etwa: Stresemann. Sofort folgt im Lösungsfeld darunter eine Auflistung passender Begriffe. Durch erstes Anklicken kommt man zu einem kurzen Text, der über den bekannten Herrenanzug in Schwarz-Grau informiert. Mit Hilfe eines weiteren Mausklicks sind wir dann bei einer ausführlich genug verfassten Biographie zu Gustav Stresemann (1878 - 1929), dem bedeutenden Reichskanzler und Außenminister der Weimarer Republik.
Keine Frage, die gefundenen Auskünfte stehen so auch in vielen gedruckten Nachschlagewerken. Doch der Vorteil bei dem digitalisierten Datenträger sind die farbig markierten Hyperlinks, die ein zusätzliches Bücherschleppen ersparen und rasch zu diesen Lexikon-Einträgen weiterführen: Inflation, Kellogg-Pakt, Rheinland-Räumung und Youngplan.
Ähnlich gut ist der kartographische Komfort beim integrierten Brockhaus-Weltatlas. Der virtuelle Globus lässt sich in jede gewünschte Himmelsrichtung drehen und seine Ansicht topographisch oder politisch gestalten. Zudem ist eine Einteilung nach den Zeitzonen möglich, und ein Zoom-Schieber verändert den Maßstab. Schaut man öfter und genauer auf die Karten, fallen freilich ein paar Mängel auf: Zum Beispiel fehlt die wichtige transkontinentale Eisenbahnstrecke vom australischen Darwin nach Adelaide ebenso wie der längst eröffnete internationale Flughafen Shanghai-Pudong. Wird nun über die praktische Ortssuche noch "Peking" eingegeben, verwundert das angezeigte Ergebnis. Außer dem Namen der chinesischen Hauptstadt ist nämlich dies zu lesen: "Peking, Sachsen-Anhalt (D)". Klickt man jetzt die Zeile an, so markiert auf der Karte sofort eine rote Nadel einen Punkt im westlichen Sachsen-Anhalt, nahe der "Straße der Romanik" gelegen.
Gibt es diesen Ort wirklich? Peking in Sachsen-Anhalt? Kein Atlas mit besonders günstigem Maßstab, auch kein deutsches Postleitzahlen-Verzeichnis kennt eine solche Siedlung. Taucht damit wieder einmal - wie gelegentlich in Publikationen des Bibliographischen Instituts (Mannheim) - ein enzyklopädisches "U-Boot" auf? Das sind Einträge mit erfundenem Inhalt, meist pseudowissenschaftlich formulierte "Nihil-Artikel".
Da war etwa 1986 in Meyers Politik-Lexikon von "Volponismus" die Rede: "eine liberale Bewegung aus Süddeutschland"; da trieb 1994 die Redaktion des 24-bändigen Brockhaus entsprechenden Schabernack mit der "ausschließlich am Menschen saugenden Gemeinen Steuer-Zecke (Ixodes fiscalis), die sich mittlerweile über ganz Deutschland ausgebreitet hat". Außerdem wurde im Brockhaus-Taschenlexikon "Weltgeschichte" ja erst vor kurzem ein fiktiver Politiker namens Abel Y. Bembel aus Frankfurt-Sachsenhausen vorgestellt. Eine Erklärung zu solch lexikographischen Scherzen liefert die sonst so informative DVD nicht, deshalb müssen Internet und Google weiterhelfen.
Nach einigem Suchen gelangt man schließlich an diese Web-Adresse: "www.wikipedia.de." Wikipedia ist ein globales Wissensportal. Seine nicht-kommerziellen Betreiber lassen Beiträge von jedermann zu, ebenso eventuell nötige Korrekturen. Dem Bochumer MdB Axel Schäfer (SPD) gefällt das demokratisch angelegte Projekt so gut, dass er es sogar auf seiner Homepage (www.axelschaefermdb.de) unterstützt. In der deutschen Ausgabe des Online-Lexikons finden sich inzwischen über 145.000 Artikel, darunter eben auch einer über die oben erwähnten "U-Boote".
Die Brockhaus-Redaktion wird dieser eine Artikel über ihre amüsanten Textfantasien kaum stören, das gebührenfreie Gesamtangebot von Wikipedia dagegen schon. Wegen dieser Kostenersparnis wird die Website von Internet-Surfern übrigens recht häufig aufgerufen, was wiederum zu Serverproblemen und gar zur Auskunftsverweigerung führt. In solchen Fällen heißt es dann auf den Bildschirmen: "Wikipedia: wegen Überlastung temporär deaktiviert."
Dem Nutzer eines Offline-Mediums kann so etwas nicht passieren. Zudem stammen bei bewährten Nachschlagewerken die Auskünfte stets von kompetenten Verfassern und sind glaubwürdig. Ein solcher enzyklopädischer Klassiker ist seit Jahrzehnten "Der Fischer Weltalmanach", den es als Taschenbuch und digitalisiert gibt. Wer zur CD-Version 2005 greift, hat den Vorteil, dass manche Zahlen, Daten und Fakten besser zu lesen sind, weil sie auf dem Monitor größer erscheinen. Ein weiterer Pluspunkt gegenüber der gedruckten Ausgabe sind die geographischen Karten, die hier bei allen Staaten von Afghanistan bis Zypern die aktualisierten Informationen ergänzen. Damit und mit den vielen Farbfotos ist der einst etwas blass aussehende Weltalmanach richtig ansehnlich geworden.
Klassenprimus in seiner Kategorie ist auch "Retrospect 2004", das historische Prachtstück der Münchner Software-Firma Digital Publishing. Gleich ob man nun eine der acht CD-ROMs oder die DVD im Laufwerk liegen hat, Mausklick für Mausklick geht es voran auf der gewünschten Route durch das 20. und angefangene 21. Jahrhundert. Unterwegs kann eine Vielzahl an illustrierten Sachartikeln und Biographien, an Videosequenzen und Tondokumenten aktiviert werden. Sie veranschaulichen wichtige Ereignisse und Entwicklungen aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Gesellschaft oder Kultur. Selbstverständlich wurden thematisch zusammenhängende Beiträge vernetzt. Wird zum Beispiel im Glossar "Adenauers zweite Kanzlerschaft" eingegeben, dann bietet dieser Text zwölf hervorgehobene Querverweise. So können schnell weitere Infos von "Adenauer" über "Saarfrage" bis "Wirtschaftswunder" aufgerufen werden. Komfortablere Zeitreisen am PC sind kaum möglich!
Trotz derart gelungener Produkte, vor allem im wachsenden Segment des Sprachenlernens, ruht man sich nicht aus, sondern entwickelt noch bessere, noch vielseitiger gestaltete Medienpakete. Verlagssprecherin Wolf skizziert den Trend so: "Kaum ein Hersteller hat nur noch allein CD-ROMs oder DVDs im Angebot. Die Kombination aus Buch, Audio-CDs und CD-ROMs ist vor dem Hintergrund einer integrierten Nutzung sinnvoll, da eben jedes Medium seine speziellen Vor- und Nachteile hat. Dem Internet wird sicherlich eine immer wichtigere Rolle zukommen, besonders als Kommunikationsmedium für aktuelle Informationen. Gerade das integrierte Nebeneinander verschiedener Medien birgt viele Chancen in sich."
Der Autor lebt im fränkischen Lichtenfels, unterrichtet Geschichte, Sozialkunde und Deutsch und schreibt für mehrere Zeitungen.