Dabei könnte man Triest auch als eine unbedeutende Provinzstadt bezeichnen. Jahrhunderte lang befand sie sich im Windschatten des geflügelten venezianischen Löwen, der zwischen Capo d'Istria (Koper) und Ragusa (Dubrovnik) die Adria dominierte. Mitte des 17. Jahrhunderts lebten rund 3.000 Menschen in den Mauern der Stadt, seit 1382 unter der Schutzherrschaft der Habsburger. Das Ende der Türkenkriege führte zur Freiheit der Schifffahrt in der Adria. Im 18. Jahrhundert wurde der Hafen ausgebaut, die Bevölkerungszahl stieg sprunghaft an, Triest wurde eine Art "melting pot". Für das istrianische Hinterland wies ein ethnografischer Atlas der k.u.k.-Monarchie schon damals mehr als 25 verschiedene Ethnien aus: Tschitschen, Zinzaren, Karaguni, Ciribirci oder Fucki.
Schon in ihrer Grundierung ist die Region zwischen Alpen und Adria eine der großen ethnischen Übergangszonen Europas. Drei Kulturräume treffen aufeinander und vermischen sich: die romanische, die slawische und vom Norden her die germanische Kultur. Letztere war ethnisch nur schwach vertreten, stellte aber über Fürstenhäuser, Administration und Kultur lange Zeit eine tragende Säule dar.
So kann Triest ein Déjà-vu bescheren, das in Venedig bestimmt ausbleibt: Manche Straßenzüge muten geradezu "kakanisch" an, von einem Hauch Wiener fin-de-siècle durchzogen - was die meisten Triestiner sofort heftig bestreiten werden, die wiederum auf ihre "italianità" pochen. Wohingegen, und das kennzeichnet das labile ethnische Gefüge, etliche Tausend slowenische Triestiner wiederum protestieren werden. Da schaut dann der "Slowene" Štuparic dem "Italiener" Stuparich tief in die Augen: Wem wohl gehört Triest? Wahrscheinlich wird diese sinnlose Frage noch längere Zeit gestellt werden, der Nationalismus ist noch längst nicht überwunden.
Hierzulande hat Triest in den 80er-Jahren den Ruf einer literarischen Hauptstadt Europas bekommen. Das ging Hand in Hand mit der Wiederentdeckung und deutschen Neuauflage des großen Schriftstellers Italo Svevo. Ein wesentlicher Mentor der Inszenierung Triests als literarischer Code ist Claudio Magris, der gemeinsam mit dem Historiker Angelo Ara 1982 das Buch "Triest. Eine literarische Hauptstadt Europas" (deutsch 1987) verfasste.
Der Originaltitel lautete etwas anders, nämlich "Triest. Eine Identität der Grenze", denn "die doppelte Seele" ist der eigentliche Tenor des Buches, der Konflikt mit seinen mehrmals blutigen Zuspitzungen und Katastrophen in den Emanationen des Nationalismus. Die Literatur, die plötzlich aufblüht, ist ein Ausdruck des Ringens der Stadt mit diesem Konflikt, - eine Äußerung ihrer zerrissenen Seele, die im Epochensprung der Moderne nahezu allen politischen Versuchungen unterliegt.
Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat einer der großen Dichter der Stadt, Scipio Slataper, in der Florentiner Zeitschrift "La Voce" ausgerufen: "Triest hat keine Kulturtraditionen." Slataper, der Poet des Karstes, des einfachen Lebens und der Völkerverständigung, warf den Stadtbewohnern vor, nichts als ihre profanen Geschäfte im Sinn zu haben; eine Blume interessiere sie nur, wenn sie sich verkaufen ließe. Tatsächlich fällt es Magris und Ara schwer, in der Geschichte der Stadt authentisches Kulturschaffen von Rang zu entdecken: "Vor allem aber gab es bis zum 20. Jahrhundert keine Literatur, die die existentiellen und sozialen Probleme dieses Völkergemischs in adäquater Weise zum Ausdruck gebracht hätte." Triestiner Literatur sei bis dahin "nichts als eine zweitrangige, verspätete italienische Literatur" gewesen.
Doch bricht er stürmisch über Handelskontore und Versicherungsschreibtische herein: der heiße Atem der Weltliteratur. Vielleicht sind es gerade ganz unverbrauchte Orte, wo so etwas passiert. Wie Perlen auf der Schnur des 20. Jahrhunderts reihen sich die Namen berühmter Autoren auf, Scipio Slataper, Italo Svevo, Biagio Marin, Carlo und Giani Stuparich, Virgilio Giotti, Guido und Giorgio Voghera, Roberto Bazlen, Boris Pahor, Fulvio Tomizza, Claudio Magris. Und es ist erstaunlich, was für eine zerklüftete Seelenlandschaft sich dem Leser da plötzlich öffnet.
Die Jahrzehnte des Schaffens dieser Dichter sind nicht wegzudenken von einem bewegten Hintergrund. Erst einmal erleben die Stadtbewohner den barbarischen Ersten Weltkrieg in nächster Umgebung mit. Da werden ganze Städte niederkartätscht; die zwölf Schlachten am Isonzo fordern rund eine Million Tote und unzählige Krüppel. Das Jahrhunderte alte Reich der Habsburger zerbröselt, auf seinem Gebiet entstehen verschiedene Nationalstaaten.
An ein immer aggressiveres Italien, das die Adria zum "Mare nostrum" machen möchte, grenzt das Staatsgebilde der uniierten Südslawen, die Republik SHS (der Serben, Kroaten und Slowenen), bald eine Königsdiktatur unter serbischer Führung, schon damals in sich zerrissen, im Zweiten Weltkrieg teilweise von Italien okkupiert, in Faschisten und Widerstand gespalten. Eine Spaltung, die im Umfeld von Triest bittere Wunden reißt, denn auch Italien ist, freilich anders gewichtet, von diesem Widerspruch geprägt. Doch finden italienische und jugoslawische Widerständische nicht zueinander, im Gegenteil. Jugoslawien verjagt den Großteil seiner Italiener, Italien einen Teil seiner Slowenen, Hunderttausende sind auf der Flucht. Namenlose Schicksale, für die Marisa Madieris Buch "Wassergrün" steht, die leise Geschichte eines kleinen Flüchtlingsmädchens zwischen Fiume/Rijeka, Venedig und Triest.
Aber Triest wäre nicht Triest, hätte es nicht auch Dichter, die noch in die finstersten Zeiten ihre Zeichen setzen; die an die Schrecknisse der Katastrophen erinnern, ohne zu verzweifeln. Zwei Autoren, zwei Bücher stehen jeweils auf ihre Weise dafür. Fulvio Tomizza, der Autor der Grenze, in seiner Jugend selbst aus Istrien vertrieben, hat mit seinem letzten Roman "Franziska" der "unerlösten Stadt" ein Zeitdenkmal gesetzt und ihre "andere" Geschichte aufgerollt:
Am 1. Januar 1900 wird in Štanjel/San Daniele, einem Karststädtchen oberhalb von Triest, Franziska Skripac geboren, ein "Jahrhundertskind", für das der Habsburgerkaiser Pate steht mit tausend Kronen. Die Tochter eines Tischlers hat das Glück, eine etwas bessere Ausbildung bei einer Landadeligen zu erhalten. Nach Ende des Ersten Weltkrieges fällt der Landstrich an Italien, Franziska findet Arbeit in Triest bei der Bahn und verliebt sich in Nino Ferrari, einen italienischen Offizier.
Die junge Frau hebt sich auf für die große Liebe zu diesem Mann aus guter Fabrikantenfamilie, der, weltenflüchtig, auch feige, die Sehnsucht über die Liebe stellt. Es gibt nur langes Warten, keine Erfüllung. Der Leser erfährt von der Zuspitzung des nationalen Konflikts in Triest, die Brandschatzung des slowenischen Kulturhauses, über den Vormarsch der Faschisten, schließlich über den slowenischen Widerstand im Karst. Franziska ist ein wacher Mensch, der bei allen Grausamkeiten der Zeit nicht verhärtet und über die Grenzen hinweg offen bleibt. Sie kommt durch - aber was ist das für ein Leben, dessen Erfolgsbilanz das "Durchkommen" ist?
Noch deutlicher wird der slowenische Triestiner Boris Pahor, Jahrgang 1913, der erst italienische Literatur studierte, bevor er Kosovel und Cankar gelesen hatte. Er ist einer, der in der Hölle war und der aus der Hölle wieder zurückkehrte. Kriegsdienst und Festnahme, Haft in San Sabbia, dem Triestiner KZ, Deportation, Harzungen, Natzweiler/Struthof, Bergen-Belsen, Dachau. Später besucht er die Stätten, wo die Nazis diese Höllen errichtet hatten; der sommerliche Rundgang über das von Touristen besuchte KZ-Gelände führt ihn ins Gelände seiner Gedanken und seiner Erinnerungen.
Boris Pahor wird oft in einer Reihe mit Primo Levi, Jorge Semprun und Imre Kertész genannt. Pahor teilt in Nekropolis mit, was nicht mitgeteilt werden kann, er thematisiert das Unmögliche. Es ist keine Erzählung im Sinne einer narrativen Abfolge, denn das Todeslager ist, was es ist, die totale Negierung des Menschen, der nur noch Material in einem Vernichtungsprozess ist. Aber auf der Suche nach seiner verlorenen Zeit unternimmt Pahor eine Anstrengung, in diesem Prozess der Massenvernichtung noch etwas anderes auszumachen: Lebenskraft. Menschlichkeit. Sonst hätte es keinen Sinn, das alles aufzuschreiben. Im Nachwort heißt es: "Primo Levis Frage: 'Ist das ein Mensch?' erhält durch Boris Pahor als Antwort ein brüderliches Ja."
Heute scheint wieder alles anders zu werden. Die einst messerscharfen Grenzen zerbröckeln, das Jahrzehnte lang abgetrennte "Hinterland" - das Tal der Soca/des Isonzo, der Karst und der nördliche Teil Istriens - sind seit dem EU-Beitritt Sloweniens problemlos zu erreichen. Mit der schrittweisen Umsetzung der europäischen Integration deutet sich auch eine Möglichkeit an, die Hyäne des Nationalen zu befrieden und das Zeitalter der innereuropäischen Konfrontationen zu beenden. Für eine Region, in der seit Beginn der Neuzeit in jedem Jahrhundert mindestens drei Mal die Grenzen neu gezogen wurden, kann diese Zukunft nur von Vorteil sein.
"Es gibt keine Stadt mit mehr Verrückten, ob sie nun in den Heilanstalten registriert sind oder frei auf der Piazza Grande herumlaufen, so voll von Missionaren ohne Überzeugung, von Puritanern, die an nichts glauben, von eingebildeten Riesen und fragwürdigen Helden." Diese Feststellung Fulvio Tomizzas mochte noch auf die 70er-Jahre voll zutreffen. Zwar gibt es auch heute noch Schriftsteller, die an diesem Mythos weiterstricken, für Triest jedoch hat ganz unspektakulär eine neue Epoche - hoffentlich - begonnen.