Was für eine großartige Partei", lobt der frisch gebackene Fraktionsvorsitzende Hugo Hopf seine Genossen von der "Arbeiterpartei Deutschlands" (APD). Gerade hat er sich in einer knappen Abstimmung gegen seine drei Konkurrenten durchgesetzt. Kaum ist er im Amt, muss er auch schon die mehr als 100 Abgeordneten seiner Fraktion auf den gemeinsamen Kurs für die nächsten Tage einschwören. Und das, obwohl er sie eben erst kennen gelernt hat.
Hugo Hopf heißt im realen Leben Robert und kommt aus Berlin, wo er gerade Zivildienst leistet. Als Abgeordneter steckt er aber in der Rolle eines Umweltexperten mittleren Alters. "Jugend und Parlament" ist in diesem Jahr als striktes Planspiel organisiert: Die Teilnehmer streiten nicht für ihre eigenen Überzeugungen, sondern schlüpfen in die Rolle von fiktiven Abgeordneten. Deren Lebensläufe und Interessen haben die Organisatoren minutiös zusammengestellt, so dass auch im Jugendparlament zum Beispiel genauso viele Lehrer sitzen wie im richtigen Bundestag.
Das Ziel des Planspiels ist es denn auch nicht, die eigene Meinung unbedingt durchzusetzen, sondern "parlamentarische Demokratie spielerisch zu erfahren", wie der Titel verrät. Die Jugendlichen sollen verstehen, auf welchen Wegen Gesetze zustande kommen. "Das ist ein Experiment", gibt Ines Mockenhaupt-Gordon zu. Sie leitet den Besucherdienst des Bundestags und hat das Planspiel zwar schon mehrfach mit Schulklassen erlebt, aber dieses Mal ist es doch etwas Besonderes: Fast 300 Teilnehmer haben sich beworben oder sind von echten Abgeordneten vorgeschlagen worden, und tummeln sich jetzt im Bundestag. Sie schließen sich zu Fraktionen und Ausschüssen zusammen, debattieren hitzig und können sich dabei so richtig wichtig fühlen, weil sie das alles genau da machen, wo sonst nur echte Abgeordnete sitzen dürfen.
Die Rollenverteilung stellt einige Teilnehmer allerdings vor gewisse Probleme: "Manche spielen gar nicht ihre Rolle, sondern sich selbst", beschwert sich Laura. Sie ist 19 und steht im richtigen Leben den Grünen nahe. Im Spiel ist sie 61 Jahre alt, hat lange in Afrika gelebt und ist jetzt Amtsärztin, die der APD angehört. "Da weiß man manchmal nicht, wie man das spielen soll. Aber ich versuch's wenigstens." Ihre Fraktionsgenossin Caro, die in Wirklichkeit Mitglied der Jungen Union ist, pflichtet bei: "Das mit der Rolle ist schwer, aber ja auch Sinn der Sache." Die Teilnehmer sollen schließlich die Argumente des politischen Gegners nachvollziehen können und nicht immer nur in den gewohnten parteipolitischen Bahnen denken. Nach kurzer Eingewöhnung klappt der Umgang mit der Rolle schließlich bei den meisten.
Vier Gesetzentwürfe haben die Organisatoren vorgegeben: Die Bundesregierung fordert die Gleichstellung von Frau und Mann in der Privatwirtschaft und hat außerdem eine Initiative gestartet, um ein Tempolimit auf Autobahnen einzuführen. Die "Liberale Reformpartei" (LRP) will die Wehrpflicht aussetzen. Und ein fraktionsübergreifender Antrag sieht vor, den Verkauf von Alkopops an Jugendliche weiter einzuschränken. Über diese vier Gesetzesinitiativen beraten die Teilnehmer in vier Parteien: Neben der sozialdemokratischen APD und den Liberalen von der LRP gibt es noch die "Konservative Volkspartei" (KVP) und die "Ökologisch-Soziale Partei" (ÖSP). Wie nicht anders zu erwarten, gibt es schon innerhalb der Parteien Meinungsverschiedenheiten über die Gesetzesinitiativen. Da muss dann die Debatte in den Fraktionen klären, ob die Partei zum Beispiel ein generelles Werbeverbot für Alkopops einführen will. Gar nicht so einfach, wenn sich dabei mehr als hundert Leute einig werden müssen. Die Abgeordneten der beiden kleinen Parteien kommen deswegen auch schneller voran. Aber auch Hugo Hopf und seine Kollegen im Fraktionsvorstand der APD leiten die Sitzung souverän. Es werden Argumente eingebracht, Anfragen und Änderungsanträge gestellt, und immer sitzt der Fraktion die Zeit im Nacken. Und wenn es wirklich eng wird, gibt es ein Druckmittel, das die diskussionsfreudigen Jungparlamentarier diszipliniert: "Wir können erst zum Abendessen gehen, wenn alle Namenslisten beim Vorstand sind."
Richtig ernst wird die Sache am nächsten Tag in den Ausschüssen. Dort prallt der mühsam gefundene Konsens der eigenen Fraktion erstmals mit den Meinungen der politischen Gegner aufeinander. Da passiert es auch schon mal, dass die ÖSP nicht die Meinung ihres Koalitionspartners teilt und sich plötzlich ganz neue schwarz-grüne Liebäugeleien im Jugendausschuss ergeben. Schließlich findet sich aber in jedem Ausschuss ein Kompromiss, wenn auch manchmal ein wackliger.
Gewisse Klischees fallen ins Auge: Im Verkehrsausschuss sitzt zum Beispiel nur eine einzige Frau, während die Männer im Familienausschuss deutlich in der Unterzahl sind. Und überhaupt: die Männer! Wie kommt es eigentlich, fragt Krista Sager, die echte Fraktionsvorsitzende der Bündnisgrünen im Plenum, ihre "Kollegen" von der ÖSP, dass der Vorstand "ihrer" Partei nur aus Männern besteht? Bei den anderen Parteien sieht es nicht viel anders aus: Gerade mal die Konservativen haben eine einzige Frau im Vorstand. Das finden sie bedauerlich, beteuern die Herren Fraktionsvorsitzenden, aber leider habe sich ja kaum eine Frau zur Wahl gestellt.
Die Kompromisse aus den Ausschüssen müssen die Fachpolitiker nun ihren Fraktionen schmackhaft machen. Aber die Kollegen meckern, schachern und argumentieren, was das Zeug hält. Nach drei Stunden ist sie endlich da, die vielbeschworene Geschlossenheit, mit der die Fraktionen die abschließenden Beratungen im Plenum für sich entscheiden wollen. Bis tief in die Nacht feilen manche Parlamentarier noch an ihren Reden für die zweite und dritte Lesung am nächsten Morgen. Und die rhetorischen Ergebnisse beeindrucken die Zuhörer im Präsidium nicht gerade wenig. Am Ende der Sitzung lobt Antje Vollmer, Vizepräsidentin des Bundestages: "Sie waren teilweise erschreckend professionell."
"Professionell und engagiert" sind auch die Eigenschaften, die die in der politischen Bildung tätigen Heidi Ness und Frank Burgdörfer den Teilnehmern zuschreiben. Die beiden haben sich das ganze Planspiel ausgedacht und in sechsmonatiger Arbeit mit ihrem Team vorbereitet. Jetzt sind sie sehr zufrieden: "Es lief alles wunderbar, an der Feinabstimmung müssen wir noch etwas arbeiten, und dann machen wir das hoffentlich im nächsten Jahr nochmal."
Am Ende lobt Bundestagspräsident Wolfgang Thierse "Leidenschaft und langen Atem" seiner "jungen Kolleginnen und Kollegen". "Seien Sie im besten Sinne Lobbyisten unseres Parlaments", fordert er, denn: "Nur durch Mitmachen ist Demokratie erfahrbar." Das haben sich viele Teilnehmer des Planspiels offenbar zu Herzen genommen: In einer Petition fordern sie den Bundestag auf, ein Jugendparlament einzusetzen, das vier Mal im Jahr tagen und Jugendliche besser politisch integrieren soll. Seine Beschlüsse sollen im Bundestag debattiert werden. Wolfgang Thierse gibt sich diplomatisch: "Wir nehmen das ernst."