In einem Interview mit dem Magazin "Focus" hat Bundespräsident Horst Köhler erklärt, man müsse endlich von der Subventionsmentalität Abschied nehmen. Es gebe nun einmal ungleiche Lebenschancen. Jedem sei unbenommen, sich in andere Regionen aufzumachen oder seiner Heimat treu zu bleiben, aber dann auch deren Unbilden in Kauf zu nehmen.
In seinem bemerkenswerten Essay über die schrumpfenden Städte und Regionen in Ostdeutschland stellt der renommierte Architektur- und Planungskritiker Wolfgang Kil fest: Alle bisherigen Versuche, der ehemaligen DDR auf die Beine zu helfen, haben versagt. Der Politik gehe zusehends die Lust und, wie sie sagt, auch das Geld aus. Was tun?
In Wittenberge wird eine Werksuhr wieder in Gang gesetzt, damit die Zeit und nicht der Ort vergeht. Harald Lloyds komische Verzweiflung beim Hängen an der Turmuhr aus den Frühtagen des Fordismus ist der verzweifelten Komik des verlorenen Antriebs gewichen. So wie die Menschen den Zeittakt gefürchtet haben, als das Industriezeitalter begann, so fürchten sie dessen Ende, da die Zeit taktlos geworden ist. Die Zeit verflüchtigt sich im Raum.
Kil unternimmt den Versuch, die genaue Zeit mit dem ungefähren Raum einzutauschen. Sein Experimentierfeld ist Ostdeutschland, vulgo ehemalige DDR, aber zweifelsohne geht er darauf aus, eine Zeitenwende anzumahnen. Er beschreibt die Folgen für Städte und Regionen, die mit Arbeitslosigkeit und Abwanderung, rapiden Bevölkerungsrückgängen und Leerständen fertig werden müssen. Förderstrategien zur Stadterneuerung, zum Eigenheimbau, zum massenhaften Abriss von Wohnungsbeständen haben die Probleme eher verlagert als gelöst. Abrisse konzentrieren sich auf die Plattenbauten der kommunalen Wohnungsbaugesellschaften. Dabei hat der Leerstand längst die neu herausgeputzten Innenstädte erreicht.
Am Beispiel der mit 90.000 Einwohnern vormals eigenständigen Halle-Neustadt zeigt Kil die Situation eines Stadtteils, der zur "Rückbaureserve" geworden ist. Für eine Stadt wie Görlitz mit ihren großartigen baugeschichtlichen Zeugnissen stellt sich nach umfassender Renovierung die Frage, wie bei einem Leerstand von fast 50 Prozent der neuerliche Verfall abgewendet werden kann. Hohe Erwartungen in den Fremdenverkehr erweisen sich hier wie anderswo als Illusion.
Kils aufschlussreiche kleine Portraits von Hoyerswerda, Görlitz, Halle-Neustadt, Leipzig-Plagwitz führen vor Augen, womit sich lokale Akteure herumschlagen müssen; sie berichten von schwindenden Chancen der Kommunen, auf die Entwicklung Einfluss zu nehmen. Dazu hat er den Band mit Fotos bebildert, die eher einer Tatortbesichtigungen gleichen.
Kil schlägt einen radikalen Wechsel vor. Er plädiert dafür, die Schrumpfung anzunehmen und sie zum Ausgangspunkt für gänzlich neue Konzepte zu machen. Der Strukturbruch hat die ehemalige DDR als eine Zone hinterlassen, die paradigmatisch ist für neue Peripherien. Entstanden ist ein Testgelände für jene sich mehrenden schwarzen Löcher der Globalisierung, wo der Staat gut daran täte, ein neues Leben zu fördern, das bescheiden, aber womöglich erfolgreich an neuen Modellen bastelt. Bürgergeld und Entkopplung von Arbeit und Einkommen sind hier die Stichworte. Dazu gehört auch das Wagnis, alternative Lebensformen und die Behütung einfachen Lebens zu begünstigen, was immer schon schwieriger zu machen war.
Die Aufbauhilfe Ost ist inzwischen längst zum Streitthema, zu einem Politikum zwischen Ost und West geworden. Wie wäre es, so Kil, wenn wir die Subventionen den Menschen geben, die ihr Schicksal und das ihrer Heimatregion selbst in die Hand nehmen wollen? Was er vorschlägt, ist nichts weniger, als unter postmodernem Vorzeichen und im Schatten der Globalisierung über die Chancen einer freien Bürgergesellschaft neu nachzudenken. Ob die Zeichen gedeutet und die Signale gehört werden, hängt von den Initiativen und Akteuren ab, deren Erscheinen wir erwarten, während wir ihr Verschwinden schon beklagen müssen.
Wolfgang Kil
Luxus der Leere.
Vom schwierigen Rückzug aus der Wachstumswelt. Eine Streitschrift
Müller + Busmann, Wuppertal 2004;
160 S., 24,- Euro