Lucille Eichengreen ist Jüdin und Überlebende des Holocaust. 1941 wurde sie ins Ghetto von Lodz deportiert; sie hat anschließend Auschwitz, Neuengamme und Bergen-Belsen überlebt. In ihrem Buch "Frauen und Holocaust" beschreibt sie nicht nur ihre persönlichen Erinnerungen, sondern schildert insbesondere das Los ihrer Weggefährtinnen.
In 16 Porträts berichtet sie über Frauenschicksale, wie das von Dr. Gisa: Selbst Häftling und Ärztin, nahm sie in Auschwitz gegen ihre Überzeugung und heimlich Abtreibungen vor, damit die werdenden Mütter nicht als lebendes Versuchsobjekt zu Tode kamen. Sie erzählt die Geschichte einer Mutter, die ihr Kind im Ghetto zur Welt bringt und miterleben muss, wie es wenige Monate später verhungert, die Geschichte eines jüdischen Paares, das zum Christentum konvertiert war und dennoch ins Lodzer Ghetto kam oder die Geschichte des Widerstands einer jüdischen Zwangsarbeiterin.
Ein Kapitel befasst sich auch mit den SS-Frauen. Ihre besondere Brutalität und Verschlagenheit erklärt die Autorin damit, dass sie sich in "Männerberufen" beweisen mussten. Die Autorin versucht, soweit es ihr möglich war, die Lebensgeschichten der beschriebenen Frauen, auch nachdem sich ihre Wege getrennt hatten, weiter zu verfolgen, so gelingt es ihr meist, ein vollständiges Bild zu zeichnen.
Lucille Eichengreen stellt den verschiedenen Stationen kurze Einleitungen voran und beschreibt, wie sie ihre Leidensgenossinnen kennenlernte. Hier werden auch persönliche Erlebnisse mit eingeflochten. Scheinbar wie nebenbei erzählt sie so auch ihre eigene Lebensgeschichte, die in diesem Buch mit ihrer Reise nach Hamburg 50 Jahre später endet. Ihr Stil ist nüchtern, präzise und undramatisch, was die Aufzeichnungen umso lebendiger und präsenter erscheinen lässt, ohne belehrend zu wirken.
Nachdem in der Vergangenheit meistens Memoiren zum Holocaust von Männern veröffentlicht wurden, werden in diesem Band die Erinnerungen einer Frau wiedergegeben, die der Auffassung ist, dass die Beachtung der Geschlechterrolle für ein umfassendes Verstehen des Geschehenen wichtig ist. Denn die Frauen-Sicht auf die Vergangenheit ist eine andere: "Männer und Frauen waren in den Lagern unterschiedlichen Formen des sexuellen Missbrauchs ausgesetzt. In Frauenlagern gab es Vergewaltigungen, aber Sex wurde auch ?getauscht' gegen eine Scheibe Brot oder eine Kartoffel." Es ist diese andere Sichtweise und die große Bandbreite unterschiedlichster Frauen und Lebensläufe, die dieses Buch so bedeutsam machen.
Ein ausführliches Nachwort von Elizabeth Baer behandelt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema "Frauen und Holocaust" und bietet so eine genaue Einordnung des Buches und der Position der Autorin. Lucille Eichengreen hat einmal gesagt: "Es gibt junge Menschen, die fragen. Wo sollen sie denn Antworten finden?" Ihr Buch selbst gibt Antworten, und das macht es so wichtig.
Lucille Eichengreen
Frauen und Holocaust.
Erlebnisse, Erinnerungen und Erzähltes.
Donat Verlag, Bremen 2004;
94 S., 10,- Euro