Als die Abgeordneten am 9. November 1989 pünktlich um 9.00 Uhr zur 174. Sitzung der 11. Wahlperiode des Deutschen Bundestags eilen, ahnen sie nicht, welche Aufregung der Tag noch bringen wird. Auf der Tagesordnung stehen Programmpunkte wie "Schätzung der EG-Getreideernte durch die EG-Kommission" und Beratungen über das Rentenreformgesetz. Spannend wird es nur kurz, als Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) aus formalen Gründen einen Ordnungsruf gegen den CDU-Abgeordneten Wilfried Böhm zurückzieht, der einige Tage zuvor der SPD-Politikerin Heidemarie Wieczorek-Zeul vorgeworfen hatte, mit den "Mauermördern" zu koalieren. Danach gibt es Parlamentsroutine - bis kurz nach 20.00 Uhr.
Die DDR-Grenzen sind geöffnet. Das hat soeben die Tagesschau verkündet. Dieser Meldung ist eine Pressekonferenz in Ostberlin im Anschluss an das ZK-Plenum der DDR vorausgegangen. Um 18.53 Uhr hatte der hohe SED-Funktionär Günter Schabowski einen Beschluss des DDR-Ministerrates verlesen, in dem es hieß, "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt." Auf Nachfrage eines Journalisten fügte er hinzu, nach seiner Kenntnis trete diese Neuerung "unverzüglich" in Kraft.
Draußen überschlagen sich die Ereignisse. Kurz nach Schabowskis Mitteilung haben die völlig überforderten Grenzposten am Übergang Bornholmer Straße in Berlin als erste die Schlagbäume geöffnet, weil sie von Menschenmassen bestürmt wurden. Drinnen, im Bonner Wasserwerk, beraten die Parlamentarier über das Vereinsförderungsgesetz. Doch plötzlich kommt Leben in die Reihen der Abgeordenten: Der CSU-Abgeordnete Karl Heinz Spilker informiert seine Kollegen darüber, dass die Grenzen für die DDR-Bürger geöffnet worden sind. Das löst anhaltenden Beifall bei CDU/CSU, FDP und SPD aus - und führt zu einer Unterbrechung der Sitzung von 20.22 Uhr bis 20.46 Uhr.
Nach der Unterbrechung gibt Kanzleramtschef Rudolf Seiters (CDU) eine Stellungnahme der Bundesregierung ab. Darin bezeichnet er die Freigabe von Besuchs- und Ausreisen aus der DDR als einen "Schritt von überragender Bedeutung". Es bleibe dabei, was Bundeskanzler Kohl in seiner Regierungserklärung nur einen Tag zuvor betont hatte: Man wolle "einen Weg des Wandels" stützen, wenn die DDR-Regierung in Reformen einwilligen werde. Man sei "zu umfassender Hilfe bereit, wenn eine grundlegende Reform der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR verbindlich festgelegt" werde, die SED auf ihr Machmonopol verzichte und freie Wahlen zusage. Die geschichtlichen Prozesse, die man gerade erlebe, eröffneten auf friedliche Weise Chancen und Perspektiven - und erforderten "ein ganz hohes Maß an Solidarität". Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags müssten "gemeinsam an unsere Bevölkerung appellieren, diese Solidarität in einer historischen Stunde auch unter Beweis zu stellen".
Bundeskanzler Helmut Kohl selbst befindet sich zum Zeitpunkt der bedeutenden Ereignisse zu einem offiziellen Staatsbesuch in Polen. Sein Stab bereitet hektisch seine Abreise vor - schließlich soll der Regierungschef nicht wie vor Jahren Konrad Adenauer ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. "Der Alte" hatte 1961 scheinbar ungerührt seinen Bundestagswahlkampf fortgesetzt, als Walter Ulbricht am 13. August die Mauer bauen ließ.
In Bonn herrscht unterdessen Freude. SPD-Chef Hans-Jochen Vogel, der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Alfred Dregger, FDP-Fraktionschef Wolfgang Mischnick und Grünen-Sprecher Helmut Lippelt zeigen sich in ihren ersten Stellungnahmen tief bewegt. Man müsse nun, so Vogel, große Anstrengungen unternehmen, damit die Menschen, die in der DDR zuhause seien, dort auch zuhause bleiben könnten. Unter dem Beifall aller Fraktionen betont Dregger, er hoffe, dass jetzt das eintreten werden, "wofür die Demonstranten in der DDR auf die Straße gegangen sind: Frieden, Freiheit, Demokratie und Menschenrechte".
Dann passiert etwas, das es im Bundestag bis dahin noch nie gab: Die Unionsabgeordneten Hermann Unland und Ernst Hinsken stimmen die Nationalhymne an - und die Abgeordneten erheben sich geschlossen von ihren Plätzen. Fast alle singen mit, nur einige Grünen-Abgeordnete verlassen den Saal. Danach ist eine Rückkehr zur Tagesordnung unmöglich geworden. Vizepräsidentin Annemarie Renger (SPD) stellt fest, "dass dieser Tag es eigentlich erfordert, nicht in diesen Beratungen fortzufahren" und beendet die Sitzung.