Am Anfang war die Männerwissenschaft und sie war fest in den Händen der Männer - so kritisierten Frauenforscherinnen in den 1970er-Jahren. Die Forschenden seien bisher fast ausschließlich Männer gewesen. Daraus könne gefolgert werden, dass die Erfahrungen von Frauen entweder systematisch ausgegrenzt oder in an Männern orientierten Kategorien gefasst wurden. Prägnant formuliert: Der Mann sei als Norm und als Synonym für Mensch erkoren worden.
Die feministische Frauenforschung hat mit der Kategorie "Geschlecht" in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen neue Sichtweisen eröffnet, mit der sie Erkenntnisse über "die andere Seite" des Geschlechterverhältnisses und über weibliche Erfahrungen erarbeitet hat. Allerdings ist es bis heute so, dass nicht nur die Frauen-, sondern de facto auch die derzeit vorherrschende "Geschlechterforschung" ebenfalls an ein Geschlecht - das Weibliche - gebunden zu sein scheint. In den 1970er-Jahren begann zunächst, an die feministische Forschung und Wissenschaftskritik anknüpfend, in Nordamerika und in einigen europäischen Ländern die Diskussion darüber, was bei der "Verallgemeinerung" von Mann zu Mensch und von männlich zu menschlich in Bezug auf das verallgemeinerte Geschlecht verloren geht und sich der Erkenntnis entzieht. Die Begründer einer bewussten Männerforschung forderten in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre eine neue, antisexistische Männerforschung, in der Männer als Geschlechtswesen untersucht werden und die männliche Erfahrungen als spezifische und kulturell wie geschichtlich variierende zum Thema macht.
Bis heute hat sich eine Vielfalt von theoretischen Modellen und institutionellen Anbindungen entwickelt. Ein großer Teil der Lehre und Forschung wird im Rahmen der traditionellen Disziplinen durchgeführt. Es gibt auch einige Universitäten, die Kurse im Fach Männerforschung als Teil eines Programms in der Geschlechter- oder auch innerhalb der Frauenforschung anbieten. In Deutschland gibt es inzwischen mehrere Netzwerke von Männerforschern.
Die kritische Männerforschung ist in den USA, Kanada und Großbritannien seit ihren Anfängen sehr stark mit der sich seit Mitte der 1970er-Jahre konstituierenden antisexistischen Männerbewegung verbunden. Bereits 1971 wurde in Nordamerika die Männerbewegungszeitschrift "Brother: A Forum for Man against Sexism" gegründet. In Großbritannien gibt das Achilles Heel-Collective seit 1978 die Zeitschrift "Achilles Heel - the radical men's magazine" heraus. Die erste nationale Vernetzung der Men's Studies entstand in den USA 1983, als die Men's Studies Task Group innerhalb der National Organization for Changing Men gegründet wurde. Daraus entstand die
Men's Studies Association, welche später vierteljährlich "The Men's Studies Review" herausgab. Die Verbindung von akademischer Forschung und Männerbewegung, die insbesondere im angelsächsischen Raum von einigen Forschern besonders betont wird, soll dazu beitragen, dass Männerforschung nicht zu einer abgehobenen, praxisfernen und damit politisch wirkungslosen akademischen Disziplin wird.
Eine andere Entwicklung ist in den skandinavi-schen Ländern Norwegen, Schweden und Dänemark zu beobachten. In diesen Ländern wurden von den dort existierenden "Gleichstellungsministerien" im Rahmen der staatlich geförderten Gleichstellungspolitik schon Mitte der 1980er-Jahre Arbeitsgruppen zum Thema "Männerrolle" gegründet. Die schwedische Gleichstellungsministerin richtete bereits 1983 die "Arbeitsgruppe zur Männerrolle" ein. Die in diesem Umfeld bisher erwachsene Männerforschung ist daher sehr stark in den staatlich unterstützten Geschlechter- und Gleichstellungsdiskurs und weniger in eine politisch aktive "Männer- und Männergruppenbewegung" eingebunden. Ein Ergebnis der Zusammenarbeit der drei nationalen Männer(er)forschungsnetzwerke war 1994 die internationale Konferenz zum Thema "Men's Families": The First Nordic Men's Studies Conference in Kopenhagen.
In Deutschland konnte sich die kritische Männer-forschung trotz der starken Verbreitung von Männer- und Männerbewegungsliteratur lange Zeit nicht universitär verankern. Erst in den 1990er-Jahren mehrten sich auch hier Publikationen, die sich explizit als Beiträge zu einer (kritischen) Männerforschung verstanden. Bönisch und Winter definierten 1993: "Unter 'Kritischer Männerforschung' verstehen wir eine Sozialwissenschaft, die von Männern mit dem Ziel betrieben wird, die anthropologischen, psychischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen für ein anderes Mannsein, eine andere Würde des Mannes zu analysieren und zu formulieren."
Von 1994 bis 2000 gab der "Arbeitskreis Kritische Männerforschung" die inzwischen eingestellte Zeitschrift Kritische Männerforschung heraus. 1996 erschien schließlich erstmals ein Sammelband mit dem Titel "Kritische Männerforschung". Seither mehren sich Publikationen zur Männerforschung. Neben dem genannten Arbeitskreis sind das "Forum Männer in Theorie und Praxis der Geschlechter-verhältnisse" und der "Arbeitskreis für interdisziplinäre Männer- und Geschlechterforschung" (Internetadressen siehe Servicekasten) derzeit wichtige Netzwerke von Männer- und Geschlechterforschern.
Obwohl im Vergleich zur Frauenforschung immer noch "unterentwickelt", sind die bis heute erforschten Aspekte der Männer- und Geschlechterforschung sind so mannigfaltig, dass sie sich kaum in ein paar Zeilen zusammenfassen lassen. Insgesamt zeigt sich, dass Männerforschung in fast allen Bereichen die bis dato wenig reflektierte andere Seite der Geschlechterverhältnisse zum Vorschein bringt. Eine kritische Männerforschung kann damit ein wichtiges Korrektiv und eine wesentliche Säule zur Weiterentwicklung der Genderforschung darstellen.
Willi Walter arbeitet freiberuflich als Wissenschaftler in den Bereichen Männer- und Geschlechterforschung und Gender Mainstreaming.