Das Parlament: Professor Baltes, wann ist jemand alt?
Paul Baltes: Alter ist nicht nur Kalenderzeit, es gibt auch eine biologische, soziale und psychologische Lebensuhr. Jenseits der Kalenderzeit ist also das Alter kein fest stehender Begriff, sondern eine gesellschaftliche oder subjektive Zuschreibung. Für Biologen beispielsweise steht der Körper und dessen Abbau im Vordergrund. Alter beginnt, wenn der Körper an Funktionstüchtigkeit verliert. Für Demografen hingegen beginnt das Alter beispielsweise, wenn man ein Alter erreicht hat, in dem die Hälfte der Bevölkerung aus der eigenen Geburtskohorte gestorben ist. Das ist in Deutschland heute so etwa mit 75 bis 80 Jahren. Soziale und subjektive Zuschreibungen sind noch dynamischer und spiegeln soziale Stereotype oder auch persönliche Befindlichkeiten wider. Noch vor wenigen Jahrzehnten dachte man, man sei alt, wenn man so an die 60 herankam. Heute ist im Durchschnitt eher das Alter 70 ein Kriterium. Die Alten sind fitter geworden.
Interessant ist dabei auch die relative Unerwünschtheit des Alters. Eine immer größer werdende Schere zwischen dem tatsächlichen Alter und dem erwünschten tut sich auf. Es beginnt bei etwa 30, da will der Durchschnitt einige wenige Jahre jünger sein. Wenn man 50 bis 60 wird, beträgt der Wunschunterschied schon etwa zehn Jahre. Die Schere wird immer größer, 20 Jahre bei 80-Jährigen und fast 30 bei 90-Jährigen. Hierin zeigt sich unsere gesellschaftliche und persönliche Bewertung des Lebensverlaufs. Wir wollen zwar alle alt werden, aber nicht alt sein.
Das Parlament: Warum wünscht man sich mit 60 nicht, lieber 30 zu sein als 50?
Paul Baltes: Da kann ich nur spekulieren. Ein Grund ist, dass das Jungsein seine unmittelbare Attraktivität verliert. Jungsein hat auch etwas Unterentwick-eltes, eine Art Oberflächlichkeit. Ältere Menschen wollen nicht in der Sphäre der Unerfahrenheit und der Dominanz des Körpers hängen bleiben, das Geistige gehört mit dem Alter mehr und mehr dazu. Viele empfinden auch, ihr Leben gut gelebt zu haben. Der zweite Faktor ist die körperliche Realität. Wir haben zwar einen Freiraum, in dem wir Realität konstruieren. Aber die Konstruktion darf nicht völlig losgelöst sein von dem, was existiert. Deshalb sucht sich der 60-Jährige eine Art Optimum. Jünger als man ist, aber nicht verrückt und unterentwickelt jung. Der Jugendwahn kann ja pathologische Züge annehmen, und in diese Kategorie will man auch nicht gehören. Es gehört zum Leben, allen Lebensaltern irgendwie eine Chance zu geben.
Das Parlament: Erlebt man das Altern und das alt werden als Verlust?
Paul Baltes: Die einfache Antwort ist ja, aber die Gewinn-Verlustbilanzierung ist komplexer. Das dritte Alter, also die 60- bis 80-Jährigen, hat das Altern ganz gut im Griff. Mit Hilfe der Medizin und der Technologie leben wir länger und länger gesund sowie aktiv. Jetzt kommt es allerdings als Gesellschaft darauf an, sich neu zu positionieren, um aus diesem neuen Potential ein produktives Alter zu machen. Anders ist es mit dem vierten Lebensalter, also von etwa 80 an aufwärts. Da wird die Bilanzierung zunehmend negativ. Aber auch im hohen Alter gibt es eine große Variabilität zwischen Menschen. Und es gibt Chancen, an seiner Fitness zu arbeiten und das Geistige sowie das Soziale in uns zu pflegen.
Das Parlament: Wie kann die Gesellschaft das Potenzial des dritten Lebensalters besser nutzen?
Paul Baltes: In einer interessanten Weise ist das Alter jung. Es ist deshalb jung, weil es noch keine lange Geschichte hat, und wir deshalb noch nicht die gesellschaftlichen Opportunitäten und Lebensformen für ein gutes Alter gefunden haben. Nehmen Sie die Arbeitswelt. Das Fehlen einer Kultur der Arbeit für das Alter legt den meisten nahe, früher auszusteigen als dies körperlich und geistig notwendig wäre. Um das Alter produktiver zu machen, müssen wir daher zu grundlegenden Reformen kommen, zu Anreizen und Möglichkeiten, die Berufliches für das Alter beinhalten. Es geht in Zukunft nicht, dass man mit 60 aufhört zu arbeiten und dann permanent Freizeit hat. Um da voranzukommen, muss man zunächst die Einsicht haben, dass Altern gestaltbar ist und dass es sich lohnt, neue Wege zu beschreiten. Dabei gilt es auch besonders zu beachten, dass alte Menschen sehr unterschiedlich sind, unterschiedlicher voneinander, als dies auf junge zutrifft. Eine Kultur der Arbeit im Alter sollte daher vor allem auch die Einzigartigkeit der älteren Menschen berücksichtigen. Homogene und altersfixierte Lösungen sind den vielen Ausprägungsformen, den vielen Gesichtern des Alters wenig angemessen.
Das Parlament: Was bedeutet Produktivität im Alter?
Paul Baltes: Eine schwierige Frage, auch deshalb, weil das gesellschaftliche Abenteuer Alter gerade erst begonnen hat. Eine Grundvoraussetzung scheint mit das Arbeiten an der eigenen körperlichen und geistigen Gesundheit; etwa durch gesundes Essen, Fitnesstraining und mentales Engagement. Sich selbst um Gesundheit und Fitness zu bemühen ist also ein erster Beitrag zur gesellschaftlichen Produktivität. Zur psychischen Grundausstattung des Alters gehört auch die Fähigkeit, sich flexibel auf neue Lebensumstände einzustellen und sich umzuorientieren. Das kann man lernen. Wenn diese Grundfähigkeiten stimmen, ist es länger und besser möglich, sich um Produktives im üblichen Sinne zu kümmern, neue Wege im Beruflichen einzuschlagen.
Das Parlament: Auf welchen Gebieten?
Paul Baltes: Ich kann einerseits immer wieder nur die großen Unterschiedlichkeiten betonen. Sie verlangen prinzipiell auf die Stärken und Schwächen einer Person abgestimmte Lösungen. Aber es gibt auch allgemeine Tendenzen. Die wissenschaftliche Evidenz legt nahe, dass sich viele ältere Menschen vor allem im Dienstleistungsektor engagieren würden. Ebenso scheint zu stimmen, dass viele ältere Menschen etwas hinterlassen möchten, sie wollen etwas für ihre Mitmenschen und für die nachfolgenden Generationen beizutragen haben. Es geht dabei nicht nur um den ökonomischen Transfer, der ist ja ohnehin höher ist, als man das meist glaubt. Alt für jung ist ein politisches Motto, an dessen Realisierbarkeit ich glaube. Leider fehlen die gesellschaftlichen und politischen Führungsfiguren, die diese Botschaft vermitteln. Das Bild, das wir derzeit über das Alter entwerfen, ist fast immer negativ besetzt. Man glaubt nicht daran, dass das Alter Potenziale hat.
Das Parlament: Teilweise hat die ältere Generation aber auch eine hedonistische Lebenseinstellung, die nichts mit liebevoller Pflichterfüllung gegenüber ihren Enkeln zu tun hat. Man ist lieber auf Mallorca, als die Kleinen vom Kindergarten abzuholen....
Paul Baltes: Das stimmt, aber es trifft nicht für die Mehrheit zu, und es sollte nicht überraschen. Man sieht an dem Beispiel eben auch, dass die ältere Generation an den Dingen teilgenommen hat, die vor allem die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts charakterisieren. Ich rede vom Hedonismus einer Freizeitgesellschaft und der immer größeren Individualisierung. Warum sollen ältere Menschen nicht diese Kennzeichen des ausgehenden 20. Jahrhunderts mit sich tragen? Die Zukunft des Alters beginnt früher und sie spiegelt auch das wider, was in der Jugend und im Erwachsenenalter der jeweiligen Generationen abgelaufen ist. Die Frage ist nur: Muss das in der Zukunft so sein?
Das Parlament: Ermöglicht es diese Gesellschaft älteren Menschen überhaupt, in anderen Strukturen als jenen des Rentnerdaseins zu leben?
Paul Baltes: Bisher nur wenig, zu wenig. Das sieht man an der beruflichen Entwicklung. Obwohl ältere Menschen fitter sind, steigen sie früher und früher aus; und dies auch in Ländern, in denen es weniger Arbeitslose gibt. Die Arbeit der ersten Lebenshälfte ist nicht die Arbeit des Alters. Weiterbildung allein reicht deshalb nicht, es muss Umbildung und Neubildung geben. Die Arbeitszeiten, Arbeitsinhalte und Arbeitsformen müssen mit dem körperlichen und psychischen Kern des Alters übereinstimmen. Bisher war es so, dass man am selben Arbeitsplatz, in der selben Branche ein Leben lang gearbeitet hat. Im Alter verändern sich aber Motive und Fertigkeiten. Wegen der körperlichen Verluste kann Arbeit im Alter auch selten ein "Full-Time-Job" sein. Die meisten älteren Menschen haben dafür nicht mehr ausreichend Energie, viele brauchen mehr Zeit für die Aufrechterhaltung ihrer körperlichen Fitness, sie haben Schwierigkeiten beim Erlernen neuer Dinge.
Auch muss man sich überlegen, ob die Gesellschaft das Senioritätsprinzip auf Dauer noch bezahlen kann. Soll man am Ende seiner Laufbahn am meisten verdienen müssen, damit die Pension stimmt? Das müssen wir ändern. Arbeit im Alter muss sich lohnen, psychisch, sozial und ökonomisch. Ohne diese Anreize werden ältere Menschen weiterhin früher und früher aussteigen.
All dies weiß man schon eine ganze Weile, zumindest in der Wissenschaft. Ich kann nur sagen, die politische Führung Deutschlands hat sich damit in der Vergangenheit nur sehr wenig beschäftigt. Wir haben am Arbeitsplatz und in der Versicherungs- und Steuerpolitik als Anreizstruktur für produktives und flexibles Altern geschlafen. Das Alter wurde verdrängt, so behandelt, als ob Altwerden immer noch eine Ausnahme sei - wie zu Bismarcks Zeiten.
Das Parlament: Viele beklagen, das mittlere Erwachsenenalter dominiere die Parlamente. Ist das tatsächlich das Problem?
Paul Baltes: Dass unser Parlament so vom Mittelalter und einigen Berufsgruppen - viele mit früher Pensionierungsmentalität - dominiert wird, bedarf des Nachdenkens. Ich glaube die Repräsentanz im Bundestag sollte die Lebensumstände und Lebensstufen unserer Gesellschaft besser widerspiegeln, sowohl die der Jüngeren wie der Älteren. Deutschland leidet unter einer Unterrepräsentanz der Lebenserfahrung im Parlament. Nur eine Handvoll der Bundestagsabgeordneten sind älter als 70 Jahre.
Es scheint mir, dass in allen Ländern, in denen sich die Altersforschung und Alterspolitik rasant entwickelt haben, mehr alte Menschen in den Parlamenten vertreten sind. Das beste Beispiel sind die Vereinigten Staaten. Dort wurde schon in den 70er-Jahren eine große Forschungsorganisation gegründet, das "National Institute of Aging". Auch die Pflichtpensionierung bei einem bestimmten Alter wurde abgeschafft. Dabei spielten die älteren Parlamentsmitglieder eine wichtige Rolle, sie hatten am eigenen Körper erlebt, was es bedeutet, alt zu werden, und wie wichtig es ist, gesellschaftliche Strukturen und Investitionen den neuen demografischen Bedingungen anzupassen. Und meine Vermutung ist, dass sie dies auch in den Diskurs mit den Jungen einbrachten und den jungen Generationen klar machen konnten, dass es auch um deren Zukunft geht. Die USA haben schon vor mehreren Jahrzehnten erkannt: Die Zukunft ist Alter.
Aber es geht nicht nur um das Alter der Parlamentarier. Es geht auch um das Gesamtspektrum der Kompetenz, die das berufliche Profil eines Parlaments ausmachen. So könnte man argumentieren, dass das Nichterkennen, das Übersehen der Altersthematik in Deutschland auch mit der Art der Eintrittskarte zusammenhängt, die man braucht, um bei uns ins Parlament zu kommen. Politikwissenschaftler können hierzu sicherlich mehr sagen als ein Psychologe. Aber ich wage die Spekulation, dass ein großes Manko des deutschen Parlaments darin bestehen könnte, dass der Zugang zur politischen Führungsrolle fast nur über die Parteien läuft, in denen man jahrelang durch eine ermüdende Mühle gehen muss. Man lernt das Überleben im Parteienleben, nicht unbedingt aber den gesellschaftlichen Erfolg.
Es gibt nur wenige Quereinsteiger in der deutschen Politik, das ist ein Innovationsdefizit. So scheint es mir, also ob es im Parlament zu wenig Menschen gibt, die in ihrem Berufsleben wirklich erfolgreich waren und dann erst in den Bundestag kommen und dort auch die Möglichkeit erhalten, etwas anzuregen und zu verändern. Es könnte also durchaus so sein, dass das deutsche Parlament eine breitere Basis an gesellschaftlicher Kompetenz und Innovationskraft braucht, um die Gegenwart richtig zu deuten und die Zukunft zu gestalten. Parteien-Kompetenz ist ein zu enges Territorium des Lebens.
Das Parlament: Alte Menschen gelten als beharrend, die Jugend als innovativ und dynamisch. Werden Gesellschaft und die Politik darunter leiden?
Paul Baltes: Ja, vor allem die Gesellschaft. Was die summarische Produktivität einer immer älter werdenden Gesellschaft angeht, ist es eine bisher unbeantwortete Frage, ob sie weiterhin so produktiv sein kann, wie eine jüngere. Das Altern der Gesellschaft ist einerseits ein Entwicklungsmotor, auch für die Wirtschaft. Andererseits haben wir Bedarf für beides: die eher bei den Älteren zu findenden Träger des Traditionswissens und die eher bei den Jüngeren zu findenden Träger radikaler Erneuerung und Transformation des Wissens.
Aber wenn sich die Proportionen zwischen jung und alt so stark verändern wie im Moment, dann ist das eine neue und schwere Herausforderung für das Innovationspotential unserer Gesellschaft. Wir müssen uns ernsthaft darum bemühen, die latenten Schätze des Alters zu heben, mehr aus den Alten zu machen, ihnen eine bessere Chance zu geben, sich in gesellschaftliche Produktivität einzubringen.
Es gibt ein weiteres Problem, was die Relevanz Ihrer Frage vergrößert: Die Globalisierung und der internationale Wettbewerb. Es wird in Zukunft weniger und weniger der Fall sein können, dass ein Land sich durch sich selbst und am eigenen Ort erneuern kann. Es gibt das internationale Umfeld, das möglicherweise bessere Leistungsbedingungen hat. Dazu gehört auch die Altersstruktur der jeweiligen Bevölkerung in den unterschiedlichen Regionen der Welt. Das Phänomen der Globalisierung wird die Grenzen unseres "deutschen" Humankapitals stärker testen, als wir das gegenwärtig glauben, vor allem, wenn es uns nicht gelingen sollte, eine bessere Kultur des Alters auf die Wege zu bringen.
Das Parlament: Kommen wir zum vierten Lebensalter. Bei jedem neuen Jahrgang verlängert sich das Lebensalter um drei Monate. In 100 Jahren könnten demnach eine Reihe von Menschen 120 Jahre alt werden. Gibt es überhaupt eine Lebensaltersgrenze?
Paul Baltes: Es gibt dazu in der Wissenschaft im Moment keine eindeutige, aber eher folgende Meinung. Es ist nicht evident, dass sich das Maximalalter der Menschheit, nämlich etwa 120-125 Jahre, verändert hat. Die Fortschritte in der Lebenserwartung beziehen sich eher auf das Durchschnittsalter, also darauf, dass mehr Menschen in dem bisher vorgegebenen Rahmen älter werden, ein höheres Alter erreichen. Und die schiere Lebensverlängerungsphilosophie hat ihre Kosten. Je älter man wird, umso größer das Auftreten gewisser unerwünschter Begleiterscheinungen, etwa der Alzheimer Demenz. 50 Prozent der über 90-Jährigen sind demenzkrank. Das ist niemandem zu wünschen und es belastet auch die Gesellschaft. Die biologische Unfertigkeit des Menschen zeigt sich im hohen Alter besonders radikal. In der Wissenschaft wird momentan darüber gestritten, ob diese Zahl dann noch über 50 Prozent ansteigt, wenn man noch älter wird. Bisher können Bildung, günstige Lebenssituation und medizinische Therapie das Auftreten der Demenz zwar nach oben verschieben, aber ihr Auftreten nicht verhindern. Wenn man mit mehr geistigen und motivationalen Ressourcen in das hohe Alter geht, hat man mehr auf der Bank. Daher wird eine Alzheimer Demenz bei gebildeteren Menschen später diagnostiziert.
Gesellschaftspolitisch und wissenschaftsstrategisch stellt sich daher die Frage, ob Ressourcen mehr in die Verbesserung der Qualität des Lebens im jetzigen Alternsbereich als in die Verlängerung des Maximalalters investiert werden sollten. Persönlich bin ich eher für Ersteres.
Das Parlament: Wer hat die Verantwortung für einen Dementen?
Paul Baltes: Wie immer geht es dabei um ein vernünftiges Zusammenspiel von Gesellschaft und Individuum. Eine Demenz ist zum wesentlichen Teil nicht selbst verschuldet. Allerdings sollte man das gesundheitsorientierte Vorsorgeverhalten des Einzelnen, sowie das ökonomische Sparverhalten für die Bewältigung möglicher Zusatzkosten nicht vernachlässigen Gutes Altwerden erfordert auch den Einsatz des Einzelnen. Außerdem wird die Rolle der weiteren Familie und der Freunde wichtiger werden. Viele Menschen haben keine Kinder mehr, die sich im Alter um sie kümmern. In den USA ist die Diskussion über den Umgang mit dem Problem des Alterns ohne Kinder schon viel weiter gediehen. Immer mehr ältere Menschen ziehen in Gemeinden, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. Der Erwerb neuer Wahlverwandtschaften im Alter steht im Vordergrund. Im Moment sind diese Lösungen allerdings vor allem für Wohlhabende im Angebot, sie müssen aber auch für andere soziale Schichten entworfen werden.
Das Parlament: Altern Frauen anders als Männer?
Paul Baltes: Oberflächlich gesehen gibt es Unterschiede, etwa in der Lebenserwartung. Frauen leben länger als Männer. Man weiß nicht so genau warum; und es sind nicht nur Unterschiede im Gesundheitsverhalten. Die Haupthypothese ist, dass es in der Evolution für das Überleben der Kinder wichtiger war, dass Mutter und Großmutter überlebten als der Vater. Deshalb, so das Argument, wurden Frauen im biologisch-genetischen Sinn für ein längeres Leben ausgewählt. Gleichwohl sind alte Frauen kränklicher als gleichaltrige Männer. Die Frauen bekommen mehr Krankheiten, die Morbidität verursachen, aber nicht unmittelbar zum Tod führen. So gibt es unter 90-Jährigen drei bis vier mal mehr Frauen als Männer. In unseren eher psychologisch ausgerichteten Forschung sind wir allerdings davon überrascht worden, dass die psychische Grundkonstellationen zwischen Männern und Frauen sehr ähnlich sind. Es gibt keine großen Unterschiede in Intelligenz, Gedächtnis oder Fragen des subjektiven Wohlbefindens.
Das Parlament: Was ist das schlimmste Vorurteil gegen das Alter?
Paul Baltes: Da gibt es eine ganze Reihe. Ich beginne mit einem gegenläufigen Beispiel. Der jüngst verbreitete gerontologische Optimismus, dass man bis ins höchste Alter funktionstüchtig sein kann, trifft nur auf das junge Alter zu. In dieser Positivierung des Alters wird über das Ziel hinaus geschossen. Das andere große Vorurteil ist genau das Gegenteil. Nämlich, dass es im Alter nur bergab geht. Dieses negative Altersurteil ist auch deshalb so tragisch, weil es eine Homogenisierung mit sich bringt. Es behandelt alte Menschen, als ob sie wegen ihres Alters alle gleich seien. Eines der wichtigsten Ergebnisse der Altersforschung ist die riesige Unterschiedlichkeit der alten Menschen. Wir brauchen also ein Altersbild, das beides zulässt und propagiert: seine Stärken und seine Schwächen, seine Gestaltbarkeit trotz gewisser Einschränkungen. Ein differenziertes Altersbild muss her. Und dann das Vorurteil, dass alte Menschen nur Kosten verursachen. Dies ist nur deshalb wahr, weil wir zu kurz denken und durch die Fehler der Vergangenheit nur auf die Sicherungssysteme fixiert sind. Die Anerkennung des Alters als Wirtschaftsfaktor ist erst im Werden.
Das Parlament: Was sind die möglichen Stärken des Alters?
Paul Baltes: Wenn man eine utopische Vorstellung von alten Menschen hat, ist es der gelebte Sinn des Lebens einschließlich der Hingabe an die nachfolgenden Generationen; also die Einsicht, dass die eigene Endlichkeit sich in den nachfolgenden Generationen auflöst. Ferner liegen die Stärken des Alters im tiefen Verständnis der Conditio humana, etwa dass man aus Situationen der Schwäche, aus Vulnerabilität und Krankheiten neue Einsichten gewinnen kann, Ältere Menschen sind Experten in der Lebensbewältigung und der Lebensdeutung. Und dann nicht zu vergessen, es gibt nicht die Stärke des Alters. Wegen der großen Variabilität im Altwerden und der damit zusammenhängenden Individualisierung liegen viele Stärken in den besonderen Charakteristiken des einzelnen, dem im eigenen Lebensweg Angesparten.
Das Parlament: Was ist Glück im Alter?
Paul Baltes: Glück hat zumindest zwei Dimensionen. Die erste ist Lebensoptimismus und die Fähigkeit im Rück- und Vorblick das richtige Maß an Lebenszufriedenheit zu komponieren. Damit einhergeht, dass man sich weiterhin an neue Lebensumstände anpassen und sie meistern kann. Die zweite Dimension ist Glück als Zufallsfaktor. Diese Art von Glück ist nicht wirklich kontrollierbar. Zufälle im Kennenlernen anderer Menschen gehören dazu, aber auch das "genetische" Glück, Eltern zu haben, deren Genom so frei wie möglich von genetischen Dispositionen für Krankheiten sind.
Das Parlament: Eine persönliche Frage: Worauf freuen Sie sich im Alter?
Paul Baltes: Auch ich schiebe das Alter vor mir her. Es gibt einige Dinge, die ich noch weiter nach vorne bringen möchte. Und dann arbeite ich mit Freuden daran, mir eine Kultur des Altwerdens zu schaffen, in der ich mich zusammen mit meinen Familien- und Wahlverwandtschaften weiter entwickeln kann. Mein Leben soll ein Abenteuer bleiben. Am Ende hoffe ich, dass ich relativ gesund sterbe. Darauf kann man sich aber wohl nicht freuen, sondern eher mit Wehmut hoffen. "Hoffnung mit Trauerflor" ist wohl eher das Motto, nach dem ich mich auf das Alter freue.
Das Interview führte Annette Rollmann.