Auf dem Tischen der grünen Bundestagsabgeordneten lagen am Donnerstag Orangen. Gedacht als solidarisches Symbol für die ukrainische Opposition, deren Parteifarbe orange ist. Ob jedoch die sympathische Verbrüderung per Südfrucht mit der Lage in der Bananenrepulik Ukraine mehr als ein Zeichen ist, darf zu Recht bezweifelt werden.
Inzwischen hat der Oberste Gerichtshof der Ukraine die Veröffentlichung des umstrittenen Endergebnisses der Präsidentschaftswahl untersagt. Ein erster Erfolg der tagelangen Massenproteste der Anhänger des vermutlich durch Stimmenfälschung unterlegenen Oppositionskandidaten Viktor Juschtschenko in der Hauptstadt Kiew und anderen Landesteilen. Was sie durch ihren einfallsreichen Widerstand gegen den "Sieger" Viktor Janukowitsch, einen Oligarchen aus dem Osten der Ukraine, erreicht haben, ist, dass die stagnativen Verhältnisse ihrer Heimat in Bewegung gekommen sind und dass die Weltöffentlichkeit unter dem Blickwinkel sehr unterschiedlicher Interessen auf die Ukraine schaut.
Während Russlands Präsident Wladimir Putin vermutlich etwas voreilig Janukowitsch zu seiner Präsidentschaft gratulierte, haben die USA und europäische Länder gegen die Wahlmanipulationen protestiert. Der Streit über den Wahlausgang stand auch im Mittelpunkt des EU-Russland-Gipfels am 25. November in Den Haag. Nur wenige Stunden vor Beginn des Treffens hatte die niederländische Eu-Ratspräsidentenschaft in ungewöhnlich scharfer Form die Wahlen in der Ukraine als undemokratisch gebrandmarkt. Wladimir Putin wiederholte dagegen seinen Glückwunsch an den Wahlsieger.
Der Machtkampf in der Ukraine ist somit zum Stellvertreterkrieg sehr unterschiedlicher Interessen geworden. Während Russlands Präsident Putin darum bemüht ist, mit Weißrussland, der Ukraine und Kasachstan einen cordon sanitaire um sein Reich zu legen, ist das Interesse des Westens darauf gerichtet, die Annäherung Kiews an die EU und die Nato weiter zu fördern. Wjatscheslaw Nikonow, Chef des russischen Forschungsinstitutes Politika, meinte deshalb, ein Sieg Juschtschenkos "würde einen Beitritt der Ukraine zur Nato innerhalb der nächsten zwei Jahre und den Abschied des Landes von den Plänen eines gemeinsamen Marktes mit Russland bedeuten - beides wäre für Russland nicht gut".
Aus diesen Perspektiven speist sich das Dilemma der gegenwärtigen Entwicklung. Würden die Demonstranten mit ihren berechtigten Forderungen nach Demokratisierung der Ukraine den Sieg erringen, könnte für Russland eine rote Linie überschritten sein. Es kommt also darauf an, die Kompromissbereitschaft des russischen Präsidenten zu testen, der mit einem Pyrrhussieg des unbeliebten Janukowitsch auch nicht allzu viel gewinnen kann. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs musste Russland weitgehend tatenlos zusehen, wie sich die Europäische Union und die Nordatlantische Verteidigungsgemeinschaft um zahlreiche osteuropäische Länder des einstigen sowjetischen Machtbereichs erweiterten und westliche Truppen in vielen Teilen der früheren UdSSR stationiert wurden.
Weshalb die Reaktion Putins auf die ukrainische Wahl auch ein innenpolitisches Gewicht haben dürfte und die psychologische Verfasstheit der einstigen Großmacht demonstriert. Wladimir Schweizer vom Institute of Europe schließt allerdings einen gewaltsamen Einsatz der Russen nach altbekanntem Muster weitgehend aus. Er hält die Möglichkeiten Russlands, auf die politische Entwicklung der Ukraine Einfluss zu nehmen, für sehr begrenzt. Russische Experten wie Boris Makarenko vom Centre of Political Technologies sehen in den jüngsten Äußerungen Putins sogar Signale von Kompromissbereitschaft und glauben, dass Janukowitsch und Juschtschenko aufeinander zugehen werden, um die Krise in der Ukraine zu lösen, die historisch in einen katholischen Westen einstiger k.u.k.-Prägung mit polnischen Einflüssen und einen russisch dominierten Osten gespalten ist.
Inzwischen haben sich die Demonstranten einen Mann ins Land geholt, dem es 1980 gelungen war, eine kommunistische Führung in die Knie zu zwingen: den inzwischen 61-jährigen ehemaligen Danziger Streikführer Lech Walesa. Er hatte sich als Vermittler angeboten, um den Regierungschef und zweifelhaften Präsidentschaftswahlgewinner Janukowitsch, den Oppositionschef Juschtschenko und den scheidenden Staatschef Kutschma an einen Tisch zu bringen. Es bleibt offen, wieviel einstiges Charisma dem Friedensnobelpreisträger und polnischen Ex-Präsidenten für diese heikle Aufgabe geblieben ist. Lech Walesa ist nicht der einzige Unterhändler in diesem Streit, der schlimmstenfalls zu einem blutigen Bürgerkrieg führen könnte. Auch Polens und Litauens Präsidenten Kwasniewski und Adamkus sowie der EU-Außenbeauftragte Solana sind nach Kiew gefolgen. Bis jetzt verhalten sich die Demonstranten äußerst klug. Sie provozieren die Staatsmacht nicht, sondern desavouieren sie durch zivilen Protest. Viktor Juschtschenko hat das ukrainische Militär aufgerufen, sich einem landesweiten Generalstreik gegen die gefälschte Wahl anzuschließen.
Bei aller Brisanz der Lage: Juschtschenkos Ruf nach Solidarität des Westens ist nicht der Hilfeschrei, wie ihn Ungarns Ministerpräsident Imre Nagy vor knapp 50 Jahren nach dem sowjetischen Einmarsch an die untätige Welt richtete, Putin ist kein Breshnew, und Walesa kein Solidarnosc-David gegen den polnischen KP-Goliath. Die Welt hat sich in den vergangenen 15 Jahren entscheidend verändert. So dass die Kiewer Demonstranten hoffentlich auch nicht auf einem Platz des himmlischen, sondern des baldigen irdischen Friedens protestieren. Es bleibt zu hoffen, dass die Politiker im Ausland dieselbe Nervenstärke und Geduld besitzen wie die Hunderttausenden mit den orangenen Schals der Opposition.